„Kein Einzelfall, sondern ein Massenphänomen“
Die Viridium-Tochter Proxalto gerät immer mehr ins Visier der Verbraucherschützer. Nachdem vor Monaten bekannt geworden ist, dass Kunden des Lebensversicherers vergeblich auf die Auszahlung ihres Rentensparvertrags warten, reißen die Beschwerden nicht ab. Die Verbraucherzentrale Hamburg hat daraufhin Mitte Dezember beschlossen, die Beschwerden von Betroffenen mit vergleichbaren Erfahrungen zu sammeln.
Konkreter Anlass war der Fall einer Versicherungsnehmerin, die ein ganzes Jahr lang, von Oktober 2021 bis September 2022 keine Rentenzahlungen aus ihrer Rentenversicherung erhalten hat. „Der Versicherten stehen aus ihrem Vertrag monatlich 467 Euro zu. Auf schriftliche Aufforderungen der Verbraucherin reagierte die Proxalto nicht.“ Erst nach einer Beschwerde der Verbraucherzentrale Hamburg habe das Unternehmen die ausstehenden Renten plus Verzugszinsen an ihre Kundin ausgezahlt. Die Begründung für das Ausbleiben der Zahlung sei ein interner Dokumentationsfehler.
Nachdem jedoch im Anschluss die Rentenzahlung erneut ausgeblieben ist, mahnte die Verbraucherzentrale Hamburg den Versicherer. Erst dann habe Proxalto gezahlt. Das Unternehmen begründete den Vorfall mit einem individuellen Fehler in der Sachbearbeitung. Auf procontra-Nachfrage erklärt das Unternehmen, es handele sich „um einen vollständig isolierten Einzelfall, bei dem aufgrund eines individuellen, internen Dokumentationsfehlers im Kundenservice die Adresse einer Kundin nicht korrekt hinterlegt war“. Proxalto habe sich für den Fehler bei der Kundin entschuldigt.
Keine Einzelfälle
Nach dem Aufruf der Verbraucherzentrale an Betroffene, sind weitere Beschwerden in Hamburg eingegangen. „Es handelt sich nicht um einen Einzelfall, sondern anscheinend um ein Massenphänomen“, sagt Sandra Klug von der Verbraucherzentrale Hamburg. Demnach berichten Kunden nicht nur von ausbleibenden Renten- und Einmalzahlungen. Betroffenen erleben bei ihren Anrufen Servicemitarbeiter, die sich nicht zuständig fühlen, erhalten keine Antwort auf Mails oder Briefe. Darüber hinaus gebe es „rätselhafte Abbuchungen vom Girokonto oder falsche Aussagen zu Vertragsinhalten“, so Klug. „Chaotische Zustände“, lautet das niederschmetternde Urteil. „Proxalto wirkt überfordert.“
Aktuell seien weit über 30 Fälle seit dem Aufruf der Hamburger Verbraucherschützer kurz vor den Weihnachtsfeiertagen eingegangen. Bundesweit seien es im vergangenen Jahr doppelt so viele Beschwerden gewesen wie 2021, erklärt der Verbraucherzentralen-Dachverband vzbv auf Nachfrage. So seien es 2022 um die 200 Meldungen gewesen, im Vorjahr etwa die Hälfte. Proxalto-Pressesprecher Heiner Reiners erklärte Mitte vergangenen Jahres auf Nachfrage. „Per Ende Juli war bei der Proxalto eine niedrige dreistellige Zahl an Fällen anhängig, in denen es zu Verzögerungen bei Auszahlungen kommt.“ Wie viele es aktuell sind, dazu hat sich das Unternehmen bis Redaktionsschluss nicht geäußert.
„Nur die Spitze des Eisbergs“
Die Verbraucherschützer beobachten, dass das Beschwerdeaufkommen zu Beginn des vergangenen Jahres besonders zugenommen haben: Im Januar und Februar habe es vermehrt Meldungen gegeben, die tatsächlich mit der IT-Umstellung bei Proxalto zu tun haben können. Allerdings stieg die Beschwerdequote im vergangenen Herbst erneut an. „Es wird gerade immer schlimmer“, sagt Klug und vermutet: „Das ist nur die Spitze des Eisbergs.“
Nun ließe sich einwenden, dass über 30 Beschwerden bei einem Kundenstamm von 2,2 Millionen nicht viel sind. Nur: Nicht alle Proxalto-Kunden befinden sich in der Auszahlungsphase ihres Vertrags. Viele zahlen noch ein und sind allein deswegen von den Problemen nicht betroffen. Dadurch ist die Relation zwischen tatsächlichen Kunden und Beschwerdefällen eine andere. Wie viele aktuell eine Auszahlung erhalten, gibt Proxalto nicht preis. Und: Das Thema Lebensversicherung ist komplex, nicht jeder weiß überhaupt, dass ihm eigentlich ein höherer Auszahlungsbetrag zusteht.
Makler berichtet: Erst durch Druck erfolgt eine Reaktion
So hat ein Kunde, der selbst vom Fach ist, dadurch überhaupt erst einen Fehler in der Abrechnung erkennen können: Einem Makler* aus Süddeutschland, der seit über 30 Jahren in der Branche arbeitet, wurde mit einem Mal eine hohe Summe abgebucht. Also sah er sich seine vorherigen Auszahlungen genauer an. Dabei stellte er fest, dass die vertraglich vereinbarte dynamische Beitragserhöhung in den Vormonaten bei den Abbuchungen nicht berücksichtigt worden war. Deswegen erlaubte sich Proxalto offenbar, die fehlenden Beiträge abzubuchen – allerdings ohne den Makler darüber zu informieren. Ein Laie ohne fachkundige Beratung hätte das kaum nachvollziehen können, sagt er. Ein anderes Mal wurden ihm grundlos bis um das Vierfache erhöhte Beiträge abgebucht. Erst nachdem er das Unternehmen über den Fehler informiert hatte, wurden ihm das Geld erstattet.
Auch viele seiner Kunden seien von fehlerhaften Abrechnungen betroffen. „In den letzten zwei Jahren vergeht nicht eine Woche, in der ich nicht massive Probleme mit Proxalto habe und den Hilferuf eines Kunden erhalte“, sagt er. Er glaubt, dass das Problem in der technischen Infrastruktur bestehe, aber auch im Personal. Demnach sei die Anzahl der Servicemitarbeiter zu gering, ihr Wissen rund um Versicherungsthemen marginal. „Das ist so, als wenn Sie Ihr Auto in die Werkstatt bringen und der Kfz-Mechaniker fragt erstmal, wo die Bremsen sind.“
Wenn er für Kunden ein Problem klären möchte, erhalte auch er oftmals keine Antwort von Proxalto. Im schlimmsten Fall rät er den Kunden, sie sollen einen Brief an den Versicherer schicken und erklären, dass sie sich an den Versicherungsombudsmann wenden sollten – mit Angabe einer Frist. In bisher jedem Fall habe sich Proxalto daraufhin gemeldet und sich dem Problem angenommen.
Weiterhin Probleme, trotz Aufstockung des Personals
Klug von der Verbraucherzentral Hamburg vermutet ebenfalls ein „systemimmanentes Problem“ bei Proxalto. Zu wenig Personal für zu viele Verträge – bei gleichzeitiger Umstellung des IT-Systems. Sie berichtet von einer Proxalto-Kundin, deren Riestervertrag ausgelaufen war. Sie wartete vergeblich auf Post des Lebensversicherers, in der ihr mitgeteilt wird, wie es nun weitergehe. Als sie das Unternehmen schließlich kontaktierte, stellte sich heraus, dass der Brief an eine Adresse verschickt worden ist, die seit Jahren nicht mehr gültig war. Anscheinend gibt es tatsächlich bei der Übertragung der Datensätze erhebliche Schwierigkeiten.
Auf Nachfrage erklärt das Unternehmen gebetsmühlenartig: „Wir haben in den letzten dreieinhalb Jahren insgesamt 2,2 Millionen Lebensversicherungen und mehr als 900 verschiedene Tarife auf eine moderne Service-Plattform überführt.“ Die IT-Modernisierung sei „jetzt praktisch“ abgeschlossen. Dabei seien es bei einzelnen Vertragsgruppen zu vorübergehenden Einschränkungen für Kunden gekommen. „Zum jetzigen Zeitpunkt befinden wir uns bereits in der Phase der Nacharbeiten und Qualitätssicherung, die die vorübergehenden Einschränkungen für Kunden adressiert.“ Proxalto habe die Zahl der Mitarbeiter im Kundenservice um 200 auf fast 400 verdoppelt.
Verbraucherschützer mit BaFin im Austausch
„Der Service kommt mit den Beschwerden nicht hinterher. Proxalto hat offenbar das Personal aufgestockt, aber es reicht noch nicht“, kritisiert Jörn Rehren, Referent Team Marktbeobachtung Finanzmarkt vom Verbraucherzentrale Bundesverband. „Die betroffenen Kunden sind verzweifelt und werden von Proxalto hingehalten.“ Die Verbraucherschützer seien mit der BaFin bereits im Austausch.
Tatsächlich hat die Aufsichtsbehörde das Unternehmen bereits im Blick: Im Sommer wurde bekannt, dass die Viridium-Gesellschaften Skandia, Heidelberger Leben und Entis für das Jahr 2021 die höchsten BaFin-Beschwerdequoten aller Lebensversicherer auf dem deutschen Markt aufweisen. Dazu kommt noch die sechsthöchste Beschwerdequote durch die Viridium-Tochter Proxalto. Der größte Abwickler auf dem deutschen Markt gab angesichts dessen zu: „Natürlich sind wir mit der Entwicklung im Jahr 2021 – auch wenn diese aus den genannten Gründen größtenteils erklärbar ist – insgesamt nicht zufrieden.“
*Der Name ist der Redaktion bekannt.