Pensionsaktuare: „Das regulatorische Korsett muss gelockert werden"

Reformen bei der Altersvorsorge lassen weiter auf sich warten. Nun schlagen die Pensionsaktuare Alarm: Das regulatorische Korsett müsse gelockert werden, weil sonst insbesondere die versicherungsförmige bAV Schaden nehme.

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08:06 Uhr | 10. Juni | 2022

Gut ein halbes Jahr nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrages hat die Bundesregierung noch kein Gesamtkonzept vorgelegt, um die Altersvorsorge zukunftsfest zu machen. Daher befassten sich die Versicherungs- und Pensionsaktuare kürzlich auf ihrer Jahrestagung 2022 mit dem Thema. Susanna Adelhardt, Head of Benefits beim Spezialchemiehersteller Evonik Industries, macht das regulatorische Spannungsfeld anhand der betrieblichen Altersversorgung (bAV) deutlich. Alte bAV-Zusagen seien meist sehr gut, doch die bAV-Chancen für neue Mitarbeiter stünden schlecht, weil Arbeitgeber kaum noch genug Gesamtbudget für die bAV hätten.

„Arbeitsrechtliche Zusagen sind für die gesamte Dauer vorgegeben und eine Anpassung nach unten ist kaum möglich“, erläutert Adelhardt. So sei Generationengerechtigkeit in der bAV derzeit nicht gewährleistet, zumal der Dotierungsrahmen der Firmen für die bAV insgesamt begrenzt ist und die globale Wirtschaftslage der bAV nicht gerade die höchste Priorität einräumt. Die Politik könnte und müsste die Regulatorik ändern und so mehr Freiheiten bei der Kapitalanlage erlauben, fordert die Expertin.

bAV-Regulatorik braucht dringend Veränderung

„Hoffnung ist auch in der Altersvorsorge keine Rechnungsgrundlage“, erinnert Friedemann Lucius, Vorstandsvorsitzender des bAV-Beraters Heubeck und Vorstandschef des Instituts der Versicherungsmathematischen Sachverständigen für Altersversorgung (IVS). Versicherungsmathematiker müssen die dauernde Erfüllbarkeit der Verträge sichern, also fachliche Antwort liefern, wie das bestehende System weiter finanzierbar ist. Die Politik muss dann den praktischen Rahmen setzen.

Auch die bAV-Regulatorik braucht dringend Veränderung, bestätigt Lucius die Adelhardt-Aussagen. Sobald die bAV-Versorgungsleistung gegen Zahlung eines festgelegten Beitrags der Höhe nach garantiert wird, schlagen Regulatorik und die anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik mit voller Härte zu. Der Ist-Zustand: Da weder die zugesagte Leistung nachträglich gekürzt noch der vereinbarte Beitrag im Laufe der Zeit erhöht werden dürfen, muss der Beitrag mit erheblichen Sicherheiten kalkuliert werden, was ihn in die Höhe treibt.

Aufsichtsrecht sollte Kapitalmarkt-Partizipation erlauben

„Zusätzlich verlangt das Aufsichtsrecht, dass Versorgungsverpflichtungen zu jeder Sekunde während des gesamten, oft jahrzehntelangen Versorgungsverhältnisses mit Vermögen bedeckt sein müssen“, erinnert Lucius. Die Folge: Beiträge müssen schwankungs- und damit renditearm in meist festverzinsliche Anlagen investiert werden und verhindern so eine echte Kapitalmarkt-Partizipation. Als Ausweg nennt der Aktuar eine renditeorientierte Anlage, vor allem in Sachwerte, sowie die Dynamisierung der Leistungen entsprechend der Wertentwicklung.

Für Bestandszusagen in der bAV wünschen sich die Pensionsaktuare mehr Gestaltungsspielraum in der Kapitalanlage. Durch derzeitige Rechtsvorschriften seien speziell Pensionskassen die Hände gebunden, in renditereichere Anlagen zu investieren. „Unterdeckungen wegen Kapitalmarktschwankungen werden selbst bei mehreren Jahrzehnten Anlagehorizont nicht akzeptiert“, so Lucius weiter. Zudem meint die BaFin, dass vorhandene Eigenmittel bis zur Mindesthöhe der aufsichtsrechtlichen Eigenkapitalanforderungen nicht als Risikopuffer für Kapitalmarktschwankungen, sondern nur für unvorhersehbare, dauerhaft ungünstige Entwicklungen verwendet werden dürfen.

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Gelockerte Regulatorik bei Pensionskassen nötig

Aus aktuarieller Sicht würden spezifische bAV-Rahmenbedingungen (lange Abwicklungszeiträume mit lebenslangen Rentenzahlungen, gesetzliche Einstandspflicht der Arbeitgeber) eine großzügigere Auslegung erlauben. „Wir wollen eine Lockerung des regulatorischen Korsetts, damit Pensionskassen mehr Risiken in der Kapitalanlage eingehen und die Kraft der Kapitalmärkte besser für die Finanzierung zugesagter Leistungen nutzen können“, bringt es DAV-Vorstand Lucius auf den Punkt.

Die bAV müsse vor allem gegen den Niedrigzins gestärkt werden. „Es muss ohne Garantien gehen, weil Versorgungslücken sich anders nicht nachhaltig füllen lassen“, erinnert der IVS-Chef. bAV sei mehr als nur ein Sparvorgang, denn auch Langlebigkeit und unkompliziertes Entsparen seien berücksichtigt.

Entkommen aus der Zins- und Inflationsfalle 

Lucius bestätigt Adelhardts Aussagen: bAV-Zusagen, die als Leistung feststehende Nominalbeträge vorsehen, befinden sich im Zangengriff: Niedrigzinsen treiben die Kosten für die Finanzierung nach oben, während die Inflation die Leistung aufzehrt. „Ein Entkommen aus der Zins- und Inflationsfalle ist aber möglich, wenn die Kraft der Kapitalmärkte in geeigneter Weise entfaltet wird“, so der Heubeck-Chef.

Dies bedeute auch den Abschied von der altbekannten versicherungsförmigen Nominalgarantie, weil bei insgesamt negativer Realverzinsung die Wertstabilität der eingezahlten Beiträge damit nicht mehr zu gewährleisten sei. Der Umschwung gelingt am besten mit der beitragsorientierten Leistungszusage (BoLZ). „Für die Ableitung einer aktuariell begründeten Untergrenze für die garantierte Mindestleistung fehlt es an objektiven Kriterien, doch eine Untergrenze wird aber aus arbeitsrechtlicher Sicht für die Rechtssicherheit benötigt“, betont Lucius. Sinnvoller als eine gesetzliche Vorgabe sei es, Betriebspartnern die Möglichkeit zu geben, sich eigenständig auf eine Untergrenze verständigen zu dürfen.

Abschaffung der 100-Prozent-Garantie erst Anfang 2023?

„Für mehr bAV-Effizienz muss das Anlagekapital stärker angezapft werden, auch durch Abschaffung der 100-Prozent-Garantie“, bestätigt Militärseelsorger Pascal Kober, Arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, während der DAV-Jahrestagung. Auf die politische Tagesordnung komme das Thema vermutlich aber erst Anfang 2023, so Kober. Aktuell gehe es um zwei Rentenpakete für die GRV.

Die politische Beschäftigung mit der Abschaffung der 100-Prozent-Garantie auf Anfang 2023 verkennt den Ernst der Lage. Vorgeblich will die Bundesregierung die bAV stärken, um die wachsenden Lücken in der GRV zu schließen. Alterssicherung in großem Stil auch über die Kapitalmärkte zu organisieren und dazu auch die regulatorischen Rahmenbedingungen anzupassen, ist nicht nur versicherungsmathematisch das Gebot der Stunde.

Top-Anbieter bei der Altersvorsorge

Zur Erinnerung: Der Höchstrechnungszins bei klassischen Rentenversicherungen ist seit 1. Januar im Neugeschäft von 0,9 auf 0,25 Prozent abgesenkt worden. Das garantierte Kapital am Ende der Laufzeit fällt damit bei anhaltendem Niedrigzins wesentlich geringer aus. Bei der BZML muss der Versicherer trotz abgesenktem Garantiezins weiterhin 100 Prozent Beitragsgarantie darstellen. Daher wird vielfach in der bAV schon die BoLZ geboten.

Bei den Top-Anbietern im Bereich der versicherungsförmigen bAV zeigt die Allianz ihre Dominanz, ergab die Marktstudie „Trends IV/2021“ der BBG Betriebsberatung. Ebenfalls in der bAV gut platziert: Alte Leipziger, Canada Life, Stuttgarter und Volkswohl Bund.

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