„Nicht in Aktionismus verfallen“
procontra: Was hat das Bundesarbeitsgericht nun konkret zum Thema Arbeitszeiterfassung beschlossen? Wer muss ab wann die Arbeitszeit erfassen?
Pascal Verma: Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass bereits jetzt aus dem Arbeitsschutzgesetz folgt, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich Überstunden zu erfassen. Das gilt ohne besondere Übergangsfristen ab sofort beziehungsweise eigentlich auch schon vor dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Entscheidung. Das Bundesarbeitsgericht hat mit dieser Entscheidung kein neues Recht geschaffen, sondern im Ergebnis eigentlich nur festgestellt, dass sich die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit bereits aus der derzeitigen Gesetzeslage ergibt. Seit der Stechuhr-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2019 wurde kontrovers diskutiert, ob eine Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit bereits besteht oder nicht. In der juristischen Literatur wurde das Bestehen der Erfassungspflicht bis zum 13. September 2022 überwiegend abgelehnt. Das Bundesarbeitsgericht hat das nun anders entschieden und die nach dieser Entscheidung bestehende Pflicht zur Arbeitszeiterfassung trifft grundsätzlich alle Arbeitgeber.
procontra: Ist das das Ende der Vertrauensarbeitszeit?
Verma: Tendenziell sind das schlechte Nachrichten für die Verfechter der Vertrauensarbeitszeit, zumindest in der Spielart, wie sie bisher weitverbreitet umgesetzt wurde. Ab jetzt ist es aber nicht mehr rechtmäßig, vollständig auf jegliche Form der Arbeitszeiterfassung zu verzichten. Das kann seit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nicht mehr als gesetzeskonform angesehen werden.
„Die Pflicht gilt unabhängig von der Unternehmensgröße.“
procontra: Wie muss die Arbeitszeit erfasst werden? Genügt es, wenn die Stundenanzahl notiert wird?
Verma: Es bleibt möglich, die Vertrauensarbeitszeit so zu verstehen, dass zwar Lage und Umfang der Arbeitszeit von den Beschäftigten frei bestimmt werden, aber Beginn und Ende dokumentiert werden. Es genügt also nicht, nur die absolute Stundenzahl zu notieren. Ziel der Erfassungspflicht ist vor allem, die Arbeitszeitregeln zu kontrollieren, also das Einhalten der gesetzlichen Pausen und der Ruhezeiten zwischen zwei Arbeitstagen. Deshalb müssen Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Überstunden erfasst werden.
procontra: Müssen Pausen, die Mitarbeitende zwischendurch machen, ebenfalls dokumentiert werden?
Verma: In diesem Zusammenhang muss erst einmal der Begriff „Pause“ definiert und die rechtliche Situation dann differenziert betrachtet werden. Pausen nach dem Arbeitszeitgesetz sind nämlich nur Zeiten mit einer Arbeitsunterbrechung, die mindestens 15 Minuten umfassen. Für diese Ruhepausen besteht meines Erachtens auch eine Erfassungspflicht, da – wie bereits erwähnt – das Ziel der Erfassungspflicht vor allem darin besteht, die Einhaltung der Arbeitszeitregeln, wie zum Beispiel der gesetzlichen Ruhepausen, zu kontrollieren. Mit kürzeren Arbeitsunterbrechungen, also sogenannte Kurzpausen, wird hingegen der arbeitsschutzrechtliche Anspruch auf Ruhepausen nicht erfüllt. Der Gesichtspunkt des Arbeitsschutzes macht es daher nicht erforderlich, dass diese Kurzpausen erfasst werden. Erfahrungsgemäß besteht jedoch in der Regel eine arbeitgeberseitige Anweisung, dass entsprechende Kurzpausen entweder generell oder anlassbezogen, zum Beispiel bei Raucherpause, dennoch zu erfassen sind, da die Arbeitgeber die Zeit dieser Arbeitsunterbrechung nicht vergüten möchten.
procontra: Auf welche Art und Weise muss die Arbeitszeit erfasst werden?
Verma: Das kann auf unterschiedliche Arten erfolgen: Elektronische Erfassungssysteme sind denkbar. Das Bundesarbeitsgericht hat aber auch die Papierform ausdrücklich zugelassen.
procontra: Für welche Unternehmensgrößen gilt die Erfassung?
Verma: Die Pflicht gilt unabhängig von der Unternehmensgröße. Auch Startups und Kleinbetriebe sind betroffen und müssen die Arbeitszeit ihrer Mitarbeitenden erfassen.
procontra: Müssen Arbeitgeber kontrollieren, dass die Mitarbeitenden der Erfassung nachkommen, oder genügt es, die Pflicht zu delegieren?
Verma: Das Bundesarbeitsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass es weiterhin möglich ist, die Aufzeichnung der Zeiten an den Arbeitnehmer zu delegieren. Allerdings muss das Erfassungssystem auch tatsächlich genutzt werden. Arbeitgeber werden ihre Pflichten also nicht schon damit erledigt haben, dass sie ein solches System bereitstellen. Es wird erforderlich sein, aufzufordern und zu kontrollieren, ob die Erfassung auch tatsächlich durchgeführt wird.
„(...) kaum vorstellbar, dass ein Verstoß sanktioniert wird.“
procontra: Was ist mit leitenden Angestellten? Gilt die Pflicht auch für sie?
Verma: Nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 erstreckt sich die Pflicht zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit nicht auf die leitenden Angestellten. Diese Ausnahme hatte der Europäische Gerichtshof bereits 2019 im Stechuhr-Urteil akzeptiert. Das Bundesarbeitsgericht hat darauf nun Bezug genommen und entschieden, dass die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für diejenigen Berufsgruppen nicht gilt, die vom Anwendungsbereich des Arbeitszeitgesetzes ausgenommen sind. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber vor allem, dass die Ausnahme von der Arbeitszeiterfassung nur bei Führungskräften gilt, die die Voraussetzungen von § 5 Abs. 3 BetrVG erfüllen – die also zum Beispiel zur selbständigen Einstellung und Entlassung von Beschäftigten berechtigt sind oder denen eine Prokura erteilt wurde, die auch im Verhältnis zum Arbeitgeber einen bedeutsamen Umfang hat. Bei der Mehrzahl der Führungskräfte werden diese Anforderungen nicht erfüllt sein.
procontra: Wer kontrolliert denn, dass die Arbeitszeit korrekt erfasst worden ist?
Verma: Zuständig sind die jeweiligen Arbeitsschutzbehörden der Länder.
procontra: Und was passiert, wenn die Arbeitszeit nicht vorschriftsmäßig erfasst worden ist?
Verma: Stand jetzt bestehen keine Bußgeldvorschriften für Verstöße gegen die Erfassungspflicht. Die Arbeitsschutzbehörde könnte jedoch bei einer Prüfung anordnen, dass die Arbeitszeiterfassung tatsächlich erfolgen muss. Verstößt eine Arbeitgeber dann gegen eine solche Anordnung der Arbeitsschutzbehörde, ist ein Verstoß bußgeldbewährt. Denkbar ist auch, dass der Betriebsrat im Wege seiner Überwachungspflicht hinsichtlich des Arbeitsschutzes auf die Einführung einer Arbeitszeiterfassung hinwirkt. Außer in den Fällen, in denen die Arbeitsschutzbehörde bereits die Durchführung der Arbeitszeiterfassung angeordnet hat, ist es in einer Gesamtabwägung bei der aktuellen Rechtslage kaum vorstellbar, dass ein Verstoß gegen die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung tatsächlich sanktioniert wird. Mit ausreichend Risikobewusstsein kann es daher sogar eine vertretbare Vorgehensweise sein, aktuell nicht in Aktionismus zu verfallen und abzuwarten, dass zeitnah die zu erwartende gesetzliche Regelung zur Arbeitszeiterfassung eingeführt wird. Somit würde man sich ersparen, das Thema Arbeitszeiterfassung wiederholt bearbeiten zu müssen.