Nach BGH-Urteil zu Thermofenstern

Rechtsschutzversicherer rechnen mit Zunahme von Diesel-Klagen

Aufgrund des aktuellen BGH-Urteils rechnen die Rechtschutzversicherer mit einer Zunahme an Schadenfällen. Laut einer Großkanzlei könnte die neue Klagewelle die bisherigen Verfahren in den Schatten stellen.

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15:06 Uhr | 26. Juni | 2023
Rechtsschutzversicherer rechnen mit Zunahme von Diesel-Klagen

Der Bundesgerichtshof hat gesprochen: Zukünftig können deutlich mehr Fahrer von Volkswagen und anderen Dieselfahrzeugen auf Schadenersatz hoffen. Die Rechtsschutzversicherer rechnen folglich mit mehr Schadenfällen.

| Quelle: Pixabay

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat am Montag die Chancen auf Schadenersatz für Millionen von Dieselfahrern deutlich erhöht. In dem vielbeachteten Verfahren (Az: VIa ZR 335/21) ging es darum, ob die Autobauer auch im Falle der vielfach eingebauten Thermofenster schadenersatzpflichtig sind. Bislang wurden nur die Käufer von vorsätzlich eingebauten Abschalteinrichtungen entschädigt. Doch der EuGH hatte sich im März weit auf die Seite der Verbraucher gestellt. Somit war zu erwarten, dass die EU-Mitgliedsstaaten mit ihrer Rechtsprechung nachziehen.

Grundsätzlich haben Deutschlands oberste Richter heute die drei Musterverfahren an die jeweiligen Vorinstanzen zurückverwiesen. Diese sollen nun eine Haftung der beklagten Fahrzeughersteller aus unerlaubter Handlung weiter aufklären, heißt es in der Entscheidung des BGH. Mit auf den Weg gegeben hat er ihnen, dass in solchen Fällen ein Differenzschaden von fünf bis 15 Prozent des gezahlten Kaufpreises festgesetzt werden kann. Innerhalb dieses Spektrums kann der zuständige Richter nach Ermessen entscheiden, ohne dass Sachverständigengutachten erstellt werden müssen. Der BGH hat sich somit für einen „mittleren“ Schadenersatz auf Basis des „kleinen“ Schadenersatzes entschieden. Das bedeutet, dass ein Nutzungsvorteil für die Jahre der Nutzung des Fahrzeugs durch den Verbraucher von den maximal 15 Prozent abgezogen wird. Ein „großer“ Schadenersatz (Rückabwicklung des Kaufvertrags mit voller Kaufpreiserstattung) ist nicht möglich.

Die Richter begründeten weiter, dass die jederzeitige Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs Geldwert habe. Diese sei aber bei den Thermofenster-Fahrzeugen beeinträchtigt, da die Fahrer stets mit einer drohenden Betriebsbeschränkung oder Betriebsuntersagung und somit einer eingeschränkten Verfügbarkeit des Fahrzeugs rechnen müssten, da die Abgaswerte nicht den Herstellerangaben entsprechen. Die Verbraucher hätten die entsprechenden Fahrzeuge mit unzulässigen Abschalteinrichtungen nicht beziehungsweise nicht zum vereinbarten Preis gekauft, so die Richter.

Unterschiedliche Erwartungen

In Folge der erhöhten Erfolgschancen auf Schadenersatz rechnen mehrere große deutsche Rechtsschutzversicherer mit einem Anstieg an Schadenfällen in ihren Häusern. Das erklärten Sprecher der Allianz sowie KS Auxilia auf procontra-Nachfrage. Zum Umfang einer neuen Schadenwelle könne man zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nichts sagen. Einerseits, weil die ausführliche Urteilsbegründung noch ausstehe, andererseits, weil noch nicht klar sei, wie sehr das Thema unter den betroffenen Autofahrern verfangen wird.

Der GDV formuliert relativ zurückhaltend: „Nicht ausgeschlossen ist aber, dass die Rechtsschutzversicherer auf Grundlage der Entscheidungen des BGH weitere Diesel-Fälle erreichen werden.“

Beim Marktreise Arag geht man indes nicht davon aus, dass es zu einem „nennenswerten Anstieg an Klagen“ kommen wird. Da von den fünf bis 15 Prozent des Kaufpreises noch der Nutzungsvorteil auf Basis der gefahrenen Kilometer abgezogen werden soll, glauben die Düsseldorfer nicht daran, dass viele Menschen für den Differenzbetrag den Klageweg beschreiten wollen. Auch von der Ergo heißt es dazu: „Wir rechnen aktuell nicht mit einem neuen großen Volumen an Rechtsschutzfällen.“

„Neue Klagewelle könnte bisherige Verfahren in den Schatten stellen“

Mit anderen Dimensionen rechnet dagegen Rechtsanwalt Christian Grotz von Dr. Stoll & Sauer, einer der größten Kanzleien im Dieselskandal. „Wenn man nun sieht, dass Thermofenster ,Industriestandart' waren, so weitet sich das Feld der potenziellen Dieselkläger auf fast alle Fahrzeuge der Euronormen 5 bis 6c aus. Wenn diese Diesel-Kunden klagen, so wird die Klagewelle sicher die bisherigen Verfahren in den Schatten stellen, zumindest das Potential ist dafür gegeben“, sagte Grotz gegenüber procontra.

Grotz betonte aber auch, dass durch die fehlende Möglichkeit auf „großen“ Schadenersatz die Streitwerte der Thermofenster-Verfahren im Vergleich zu den bisherigen Diesel-Verfahren sinken werden, was das Kostenrisiko für Kläger und Versicherer senken wird. Auch der Verzicht auf Sachverständigengutachten innerhalb des Spektrums von fünf bis 15 Prozent solle Kosten vermeiden, so Grotz.

Der GDV hatte vor wenigen Tagen darüber informiert, dass die von den Rechtsschutzversicherern bezahlten Prozesskosten seit 2015 auf 1,52 Milliarden Euro gestiegen sind und Dieselgate damit der teuerste Schaden in der Geschichte der deutschen Rechtsschutzversicherer ist. Da im Verlauf des Dieselskandals zunehmend höherwertige Fahrzeuge in den Fokus rückten, sei der durchschnittliche Streitwert von anfangs 22.500 Euro auf mittlerweile 26.100 Euro gestiegen.