Altersvorsorge: Hat die Vorzugsrente eine Zukunft in Deutschland?

Das Alleinstellungsmerkmal der Versicherer, die lebenslange Rente, kommt seitens Verbraucherschützern unter Beschuss. Der Vorwurf: Die Versicherer kalkulieren mit zu hohen Lebenserwartungen. Das Modell der Vorzugsrente könnte hier Abhilfe schaffen.

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09:11 Uhr | 18. November | 2022
Vorzugsrente Bild: Orbon Alija

Das Konzept der Vorzugsrente bietet insbesondere für Menschen mit schlechtem Gesundheitszustand klare Vorzüge. Bild: Orbon Alija

„Alt wie ein Baum möchte ich werden, genau wie der Dichter es beschreibt“, besangen einst die Puhdys ihren Wunsch nach einem langen Leben. Man muss schon etwas suchen, um einen Pop-Song zu finden, der nicht die ewige Jugend, sondern das hohe Alter lobpreist. Die Erklärung liegt auf der Hand: Während die Jugend zumeist mit einer ausschweifenden Sorglosigkeit in Verbindung gebracht wird, verknüpft man das Alter eher mit Verantwortlichkeiten, Sorgen und Problemen – auch finanzieller Natur.

Wie alt die Deutschen werden, ist eine Frage, die nicht nur in der Kunst, sondern auch der Versicherungswirtschaft von Bedeutung ist. Schließlich bewerben die Versicherer ihre privaten Rentenversicherungen mit der Auszahlung einer lebenslangen Rente – und die muss immer länger halten, wie Daten der Gesetzlichen Rentenversicherung zeigen. Je älter die Versicherungsnehmer werden, desto länger muss die Rente ausgezahlt werden – entsprechend gilt es sicherzustellen, dass die Kalkulation stimmig ist.

Aus Sicht des Verbraucherschutzes kann davon jedoch keine Rede sein. Ihr Vorwurf: Die Versicherer kalkulieren falsch – zu ihren Gunsten. „Auch wer erfolgreich und viel spart, bekommt trotzdem nur eine niedrige Riester-Rente, weil die Versicherungsunternehmen mit massiv überzogenen Lebenserwartungen kalkulieren“, bemängelte 2020 der damalige Vorstandssprecher des Bunds der Versicherten Axel Kleinlein. So würden die Versicherer für zum damaligen Zeitpunkt 37-Jährige mit einer Lebenserwartung von 100 bis 150 Jahre kalkulieren, so der Vorwurf. Das Statistische Bundesamt würde hingegen eine Lebenserwartung von 87 bis 91 Jahren prognostizieren.

Lösung aus Großbritannien

Zwar lässt sich diese Kritik fachlich entschärfen – schließlich blickt sie allein auf die garantierte Rente und vernachlässigt mögliche Überschussbeteiligungen. Doch für Menschen, die aufgrund von Erkrankungen, Übergewicht, Bluthochdruck oder anderen gesundheitlichen Einschränkungen mit einer deutlich geringeren Lebenserwartung rechnen müssen, können die Kalkulationen der Versicherer zum Problem werden. Denn je höher diese die Lebenserwartung ansetzen, desto geringer fällt die monatliche Rentenzahlung aus. Wer letztlich deutlich mehr einzahlen muss, als er am Ende ausgezahlt bekommt, dürfte sich zweimal überlegen, ob er mittels privater Rentenversicherung vorsorgt.

Eine mögliche Lösung für dieses Problem stammt aus Großbritannien und nennt sich Vorzugsrente. Eingeführt wurden entsprechende Produkte bereits in den 90er-Jahren. Ihr Prinzip ist vergleichsweise simpel: Wer zu Rentenbeginn unter bestimmten Vorerkrankungen leidet und eine entsprechend kürzere Lebenserwartung aufweist, bekommt von seiner Versicherung eine höhere monatliche Rente ausgezahlt. Ausreichend Daten zur Lebenserwartung mit bestimmten Erkrankungen sind vorhanden, die Versicherer können entsprechend sauber kalkulieren.

Doch obwohl diese Produkte in Großbritannien bereits knapp 30 Jahren auf dem Markt sind, haben sie den Sprung über den Ärmelkanal bislang nur in wenigen Fällen geschafft. Gerade einmal zwei Anbieter in Deutschland haben entsprechende Produkte in ihrem Portfolio: die Liechtenstein Life sowie die LV 1871. Bei den Münchenern wurde die Extra-Rente bereits 1999 eingeführt, damals als sofort beginnende Rente gegen Einmalbeitrag. „Inzwischen haben wir das Prinzip als eXtra-Renten-Option beispielsweise in unsere Mein Plan Familie integriert – ohne Mehrbeitrag“, berichtet Iris Bauer, Leiterin Produktmanagement und Produktentwicklung bei der LV 1871.

25 Prozent höhere monatliche Rente

In vielen Verträgen ist die Extra-Renten-Funktion bereits automatisch eingeschlossen – integriert ist sie unter anderem in der Basis-Rente, aber auch in der betrieblichen Altersversorgung. Das Prozedere läuft dabei wie folgt: Einmalig zum Rentenübergang kann die versicherte Person eine individuelle Einschätzung des Gesundheitszustands vornehmen lassen. Attestiert der Arzt dem Versicherungsnehmer schwere gesundheitliche Einschränkungen, erhält der Kunde ein Angebot zur Extra-Rente. „Die Höhe der Rente hängt vom Krankheitsbild und der damit erwarteten individuellen Lebenserwartung ab“, erklärt Bauer.

Je nach Krankheitsbild kann sich der monatliche Rentenbeitrag für den Versicherungsnehmer deutlich erhöhen, wie zwei Beispiele zeigen. So bekäme eine 63-Jähriger mit der Diagnose Herzinfarkt (Bluthochdruck, erhöhtes Cholesterin, Raucher, Herzinfarkt vor einem Jahr) eine um 25 Prozent höhere Rente als ohne Extra-Renten-Funktion. Bei der Diagnose Diabetes (seit 20 Jahren, mittlerweile insulinpflichtig, leichte Augenhintergrundveränderungen, BMI erhöht, erhöhte Cholesterinwerte, Bluthochdruck) fiele die monatliche Rentenzahlung indes um 20 Prozent höher aus. Die erhöhte Rente wird auch für den Fall ein Leben lang gezahlt, sollte der Versicherungsnehmer überraschend wieder genesen.

Für den Versicherer lässt sich das dennoch sauber kalkulieren. „Für die Kalkulation der Lebenserwartung bei bereits vorliegenden schweren Erkrankungen gibt es gute Erfahrungen, auch für Versichertenbestände. Das Produkt ist in UK seit vielen Jahren erprobt. Wir arbeiten an dieser Stelle mit einem internationalen Rückversicherer zusammen, der über ein großes Portefeuille an versicherten Risiken im Bestand verfügt“, berichtet Bauer. Zudem übernehme der Rückversicherer einen Großteil des Risikos.

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Ein äußerst kundenfreundliches Modell, mit dem einer der Hauptkritikpunkte an privaten Rentenversicherungen entschärft wird, sollte man meinen. Und doch fristet die Vorzugsrente in der deutschen Versicherungslandschaft gerade einmal ein Nischendasein. Daran dürfte sich in naher Zukunft auch wenig ändern, wenn man sich in der Branche umhört. Bei der Alten Leipziger heißt es, dass man derzeit keine große Nachfrage nach Vorzugsrenten wahrnehme. „Das liegt unter anderem daran, dass bei uns in erster Linie Rentenversicherungen nachgefragt werden, die neben der reinen Rentenzahlung zusätzliche Todesfallleistungen bzw. Rückkaufsmöglichkeiten bieten. Diese reduzieren aus unserer Sicht den vermeintlichen Vorteil der Vorzugsrenten signifikant.“

Auch der Volkswohl Bund arbeitet derzeit nicht an einer entsprechenden Police. In Dortmund vertritt man die Auffassung, dass Menschen, die befürchten, aus gesundheitlichen oder anderweitigen Gründen ihr Geld nicht aus ihrer privaten Rentenversicherung zurückzubekommen, sich für eine Kapitalabfindung entscheiden.

Das Argument „geringe Akzeptanz“ bringt auch die Bayerische gegen die Einführung einer Vorzugsrente an. Hinzu komme zusätzlicher Aufwand durch die Implementierung einer weiteren Gesundheitsprüfung vor dem Renteneintritt. So kommt auch die Bayerische für sich zudem Schluss: „Aufgrund des erhöhten Aufwandes und der geringen Akzeptanz sehen wir aus heutiger Sicht keine großen Marktchancen in diesem Bereich in Deutschland.“

Und die Politik? Insbesondere bei staatlich geförderten Produkten wie der Basis- oder aber der Riester-Rente, die einen Verrentungszwang inkludiert haben, wäre die Vorzugsrente eine interessante Option. Vor allem die kriselnde Riester-Rente, über deren Reformierung die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode beraten will, könnte hierdurch – und durch das Drehen an manch anderer Stellschraube – für so manchen wieder interessanter werden.

Skepsis in der Politik

Doch auch hier begegnet man dem Konzept skeptisch. „Wir Grüne planen nicht, die Vorzugsrente bei der Reform der Riester-Rente zu integrieren“, sagt Stephan Schmidt, Mitglied für Bündnis 90/ Die Grünen im Finanzausschuss. Persönlich finde er die Vorzugsrente gar problematisch, da sie die Menschen womöglich zu einem ungesunden Lebensstil anrege. Dieses Argument scheint doch etwas weit hergeholt zu sein. Nichtsdestotrotz will man auch bei den Grünen die private Vorsorge bei Menschen mit geringerer Lebenserwartung anregen. Statt der Vorzugsrente präferiert man bei der Regierungspartei allerdings eher eine Abkehr von der Verrentungspflicht.

„Wir können uns vorstellen, eine Wahlmöglichkeit zur monatlichen Rentenzahlung anzubieten, z.B. indem die Rente zum Rentenbeginn ausbezahlt wird“, so Schmidt. Einen Anstoß durch die Politik werden die Versicherer somit kaum bekommen. Entsprechend droht das in der Vorzugsrente schlummernde Potenzial weitgehend ungenutzt zu bleiben. Die Versicherer lassen somit eine Chance liegen, ihr Alleinstellungsmerkmal – die lebenslange Rentenzahlung – mit der bestehenden Kritik auszusöhnen.

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