Wie sinnvoll und gerecht wäre eine Pflegevollversicherung?
Eine aktuelle Forsa-Umfrage im Auftrag des Paritätischen Wohlfahrtsverbands sowie weiterer Sozialverbände lässt aufhorchen. Demnach wünschen sich 81 Prozent der Deutschen den Ausbau der gesetzlichen Pflegeversicherung zu einer Pflegevollversicherung, die alle pflegebedingten Kosten übernimmt. Nur 14 Prozent halten die staatlichen Leistungen für ausreichend und setzen zum Schließen der Pflegelücke auf individuelle Vorsorge. Der Rest zeigte sich unentschlossen. Die Zustimnmung war hoch unabhängig von der politischen Gesinnung der Befragten.
Die bevölkerungsrepräsentative Befragung fand in der ersten Augustwoche unter 1.010 Personen ab 18 Jahren statt. In Auftrag gegeben wurde sie vom Bündnis für eine solidarische Pflegevollversicherung, dem neben dem Paritätischen auch die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK), der Sozialverband Deutschland (SoVD), der Bundesverband der kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen, der Deutschen Frauenrat, der BIVA-Pflegeschutzbund, die Volkssolidarität und die AWO angehören.
Unter einer Pflegevollversicherung verstehen die Parteien die Übernahme aller pflegebedingten Kosten durch die Sozialversicherung. Aktuell müssen Menschen, die Vollzeit in Pflegeheimen untergebracht sind, im ersten Jahr nach Abzug der Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung im bundesweiten Durchschnitt pro Monat noch knapp 2.700 Euro aus der eigenen Tasche bezahlen. Würde der sogenannte Einrichtungseinheitliche Eigenanteil (EEE), der die Pflegekosten beschreibt (circa 1.300 Euro), durch die Einführung einer Pflegevollversicherung wegfallen, hätten die Pflegebedürftigen beziehungsweise ihre Verwandten nur noch etwa die Hälfte der Kosten selbst zu tragen. Zudem drängt das Bündnis langfristig auf eine Übernahme der Investitionskosten für die Einrichtungen (circa 450 Euro) durch die Bundesländer. Somit müsste nur noch rund ein Drittel der bisherigen Kosten selbst geschultert werden.
Wer soll das bezahlen?
Doch wie soll das alles finanziert werden? Das Ganze über ein Umlageverfahren zu stemmen, hält man beim PKV-Verband für utopisch. Dessen Direktor, Florian Reuther, sagte: „Eine Pflegevollversicherung bedeutet massive Zusatzlasten für die Beitragszahler, aber keine gezielte Hilfe für ärmere Pflegebedürftige. Stattdessen erhält die vermögendste Rentnergeneration aller Zeiten zusätzliche Leistungen aus der Gießkanne, obwohl die meisten in Eigenverantwortung für ihre Pflegekosten selbst vorsorgen können. Und das auf Kosten von Beitragszahlern, die weit weniger wohlhabend sind als viele Profiteure einer Vollversicherung.“
Die Leistungen aus einer Pflegevollversicherung, wie sie das Bündnis der Verbände fordert, würde also auch die Menschen begünstigen, die es gar nicht nötig haben – finanziert auch von denen, die es finanziell jetzt schon schwer haben. Beim Paritätischen hingegen hält man das Modell für sinnvoll – und finanzierbar. Möglich werden solle dies durch eine Bürgerversicherung, welche gesetzliche und private Pflegepflichtversicherung zusammenführt, die Beiträge also auf mehr und vor allem zahlungskräftigere Schultern verteilt.
Doch auch hier grätscht Reuther dazwischen: „Es wäre ein fataler Fehler, mit einer erzwungenen Einheitsversicherung dieses unstabile Umlagesystem auf noch mehr Versicherte auszuweiten. Das würde die jüngeren Generationen völlig überlasten.“ Wenig überraschend sieht die PKV-Lobby die private Pflegevorsorge als wichtigsten Hebel. Diese ist im Verhältnis zu Bevölkerung und Pflegebedürftigkeit aber noch gering ausgeprägt. „Die Politik müsste klipp und klar sagen, dass zur privaten Altersvorsorge auch die private Pflegevorsorge gehört“, sagte Dominik Heck, Teamleiter Newsroom beim PKV-Verband, gegenüber procontra.
Konkrete Vorschläge bis Mitte 2024 erwartet
Beim Bundesgesundheitsministerium verspürt man aufgrund des aktuellen Stimmungsbilds aus der Bevölkerung, auf procontra-Nachfrage, keinen erhöhten Handlungsdruck, sondern verweist auf den Koalitionsvertrag. „Konkret wird das BMG bis zum 31. Mai 2024 Empfehlungen für eine stabile und dauerhafte Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung vorlegen“, so eine Sprecherin. In der gemeinsamen Zielsetzung der Ampel-Regierung heißt es, dass „geprüft werden soll, die soziale Pflegeversicherung um eine freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung zu ergänzen, die die Übernahme der vollständigen Pflegekosten umfassend absichert.“ Dazu soll noch in diesem Jahr eine Expertenkommission generationengerechte Vorschläge liefern. Bei der letztendlichen Erarbeitung der Pflegereform sollen sich auch die Bundesministerien für Finanzen, Arbeit und Soziales, Wirtschaft, Familien sowie die Bundesländer beteiligen.
Ob dann Pflegehilfen mit der Gießkanne das Mittel der Wahl sein werden, darf bezweifelt werden. Bezugnehmend auf die aktuellen Umfrageergebnisse äußerte sich beispielsweise die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, Eva-Maria Welskop-Deffaa, mit den Worten: „Wir brauchen kein Erbenschutzprogramm.“ Denn wer alt und krank sei, aber über Vermögen verfüge, dürfe dieses ruhig für die eigene Pflege aufzehren.