ESG-Wirrwarr: „Formalismus und Aufwand drohen auszuufern“

Nicht nur die Zielgruppe von Nachhaltigkeitsprodukten hat sich zuletzt verändert. Auch in puncto politischer Regulation bewegt sich Einiges. Wie lässt sich künftig mehr Transparenz herstellen – bräuchte es gar eine „Kapitalanlagenampel“? Die Stuttgarter-Vorstände Ralf Berndt und Dr. Guido Bader im Gespräch.

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13:02 Uhr | 01. Februar | 2021

procontra: Der Hype um nachhaltige Versicherungsprodukte wird immer größer. Beobachten Sie, dass sich Ihre Zielgruppe für ESG-Produkte mit der Zeit verändert hat?

Ralf Berndt: Die Produktidee zur „Grünen Rente“ ist bei uns früh und in Zusammenarbeit mit Spezialmaklern entstanden, die sich dem Thema Nachhaltigkeit verschrieben haben. Was 2013 noch eher auf eine anthroposophisch orientierte, kleinere Zielgruppe ausgerichtet war, ist heute glücklicherweise Mainstream. Die Fridays-for-Future-Bewegung hat das Thema vollends etabliert.

procontra: Angeblich interessieren sich vorrangig nur bestimmte Gesellschaftsgruppen wie Besserverdiener, Jüngere und Frauen für Nachhaltigkeit. Fehlt es dem Thema an der nötigen Breite?

Berndt: Das würde ich nicht sagen. Anfangs war es zwar tatsächlich so, dass die Nachfrage insbesondere aus den genannten Zielgruppen kam. Aber auch hier bemerken wir, dass sich die Interessentengruppe vergrößert hat. Insbesondere Arbeitgeber haben sich das Thema zunehmend auf die Fahnen geschrieben. In der bAV ist die Grüne Rente erfolgreich geworden. Unternehmen spiegeln uns, dass die Belegschaften es honorieren, wenn Arbeitgeber ihnen nicht nur die zusätzliche Leistung per se bieten, sondern auch noch etwas Gutes damit tun. Insgesamt wird Nachhaltigkeit als Entscheidungskriterium wichtiger. Folglich wird das Angebot auch größer – und zwar nicht nur im Supermarkt.

procontra: Viele Menschen denken in puncto Nachhaltigkeit zuerst beim Essen um, abstraktere Dinge wie Versicherungsprodukte folgen oft zeitverzögert. Ist die Nachfrage bei Ihnen in den stetig gewachsen, oder gab es Sprünge?

Berndt: Bis 2019 stieg die Nachfrage tatsächlich kontinuierlich, den großen Sprung haben wir 2020 gemacht. Und im Vergleich zu den anderen Lebensbereichen gilt: Bio-Waren sind in der Regel teurer als konventionelle Produkte. Die Grüne Rente kostet aber nicht mehr als unsere vergleichbaren Altersvorsorgeprodukte, das ist ein immenser Vorteil.

Dr. Guido Bader: Hinzu kommt, dass sich die Menschen seit einem Jahr bedingt durch die Corona-Pandemie generell mehr Gedanken um ihre Altersvorsorge machen. Hier kommen also mit Nachhaltigkeit und Vorsorge zwei Trendthemen zusammen.

procontra: Warum bieten Sie überhaupt noch andere Produkte an, wenn Ihre grüne Variante ESG-Vorteile ohne Einbußen ermöglicht?

Bader: Im Neugeschäft sind wir von der alten Klassik abgerückt, hin zu hybriden, also fondsgebundenen Produkten. Und in einer solchen LV macht es natürlich schon noch einen Unterschied, ob ich die komplette Fondauswahl habe oder eine auf das Thema Nachhaltigkeit eingeschränkte. Denn hier spielt wieder die Regulatorik hinein: Wenn Sie ein Produkt als nachhaltig bewerben wollen, muss es ausschließlich nachhaltig sein. Manche Kunden wollen aber lieber die volle Bandbreite haben, zum Beispiel inklusive DAX-ETFs. Dann ist es aber kein offiziell „nachhaltiges“ Produkt mehr.

Berndt: Wenn wir ab 2013 nur die Grüne Rente angeboten hätten, wäre das wenig erfolgreich gewesen. Wir mussten erst einmal Pionierarbeit leisten, denn damals war noch die Mentalität weit verbreitet, dass eine nachhaltige Anlage eine schlechtere Rendite abwirft – was falsch ist.

procontra: Im vergangenen Jahr haben viele befürchtet, dass die Dringlichkeit des Themas ESG hinter der Corona-Krise zurücktreten könnte.

Berndt: Natürlich galt und gilt es in der nationalen Politik erst einmal, die unmittelbare Krise zu managen. Aber bei der EU hat ESG auch im vergangenen Jahr keinerlei Priorität eingebüßt.

Bader: … und auch nicht im Bewusstsein der Menschen. Das war nur zwischenzeitlich die Wahrnehmung, weil durch Corona beispielsweise die Fridays-for-Future-Demonstrationen ausgesetzt wurden. Wer aber einmal für das Thema sensibilisiert ist, wird davon nicht mehr abrücken. Da es sich bei Corona um eine Gesundheitskrise handelt, hat sie das Bedürfnis nach einem gesünderen Leben und einer Besinnung auf das Wesentliche eher gesteigert.

procontra: Wie zufrieden sind Sie mit den ab 10. März zu veröffentlichenden Informationen im Rahmen der EU-Transparenzverordnung?

Berndt: Transparenz ist grundsätzlich zu begrüßen. Mit den Details sind wir allerdings weniger einverstanden.

procontra: Warum?

Bader: Formalismus und Aufwand drohen auszuufern! Unser größter Kritikpunkt: Was wir laut EU-Transparenzverordnung zu eigenen Kapitalanlagen und vorvertraglichen Informationen berichten sollen, wird die Verbraucher schlichtweg überfordern. Der EIOPA-Entwurf sieht vor, zu jeder Kapitalanlage über 40 Datenpunkte zu sammeln. Die Details hierfür zu beschaffen, kostet eine Menge Geld – und das für eine Scheingenauigkeit, die am Ende von niemandem gewürdigt wird.

procontra: Ihr Gegenvorschlag?

Bader: Wir sollten uns lieber auf wenige zentrale Punkte fokussieren, die den Verbraucher tatsächlich interessieren. Der Aspekt CO2-Ausstoß zum Beispiel, oder dass Kinderarbeit ausgeschlossen werden kann. Aber ob es uns weiterbringt, wenn man über die komplette Anlage den Gender-Pay-Gap ermitteln muss, bezweifle ich.

procontra: Das Thema ist aber unstrittig komplex. Auch die Lieferketten rücken immer mehr ins Blickfeld. Könnte die teils mangelnde Bereitschaft von beispielsweise US-amerikanischen Unternehmen, Berichtspflichten einzuhalten, zu einer Art europäischem Protektionismus führen?

Bader: Was die regionale Diversifikation anbelangt, glaube ich nicht, dass wir so etwas zu befürchten haben. Durch den neuen Präsidenten Joe Biden gewinnt das Thema auch in den USA an Zug. Die Dringlichkeit des Handelns haben inzwischen alle großen Volkswirtschaften erkannt. Und auch die Datenerhebung wird im angelsächsischen Wirtschaftsraum ähnlich praktiziert. Ich sehe also kein eingeschränktes Investitionsportfolio für uns.

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procontra: Meist steht beim Thema ESG das „E“ beziehungsweise der Begriff „Grün“ im Vordergrund. Ist der für den Verbraucher relevanter als soziale und Governance-Aspekte?

Bader: Ja, insbesondere der Klimawandel steht klar im Fokus. Für die Grüne Rente spielen aber alle Aspekte eine große Rolle: Wir schließen z. B. Kinderarbeit aus, berücksichtigen Sozialaspekte. Das „G“ ist vor allem ein Hygienefaktor: Auch ein Green Bond in einem korrupten Staat darf keine Investitionsalternative sein.

procontra: Wie lauten Ihre genauen Anlagekriterien?

Bader: Wir haben eine komplette nachhaltige Produktpalette mit großer Fondsauswahl. Was Sicherungsvermögen und Deckungsstock angeht, lassen wir den Anteil, den wir der Grüne Rente anrechnen, regelmäßig von einem unabhängigen Institut, dem Institut für nachhaltiges, ethisches Finanzwesen e.V., kurz INAF, zertifizieren. Das Ergebnis wird jedes Jahr in einem Anlagebericht für die Grüne Rente dokumentiert, der auf unserer Homepage zu finden ist. Es handelt sich um Impact Investments, also gezielt ausgewählte Anlagen, die einen Positiveinfluss auf „E“ und „S“ haben, wie zum Beispiel die Hypothekenfinanzierung eines Altenheims, oder Infrastrukturinvestments in erneuerbare Energien.

procontra: Mussten Sie schon einmal ein Asset austauschen, weil es die Kriterien nicht mehr erfüllt hat?

Bader: Nein, bislang nicht. Im Moment verfügen wir nur über Anlagen, die über alle Zweifel erhaben sind, wie zum Beispiel Photovoltaik- oder Wasserkraftanlagen.

procontra: Immer mehr Siegel, Plaketten und Institute zertifizieren Produkte als Grün. Besteht die Gefahr, dass Verbraucher den Überblick verlieren?

Berndt: Stand heute ist: Für den Finanzbereich gibt es Versuche von Ratings, aber noch keinen Standard, auch bei den Indizes nicht. Bei Lebensmitteln gibt es auch unendlich viele Labels im Bio-Bereich. Da könnte Regulierung aus Europa hilfreich sein, anhand derer der Verbraucher sich möglichst einfach Transparenz verschaffen kann – ohne seitenlange Produktblätter durchzuackern.

procontra: Eine Art „Kapitalanlagenampel“?

Berndt: Ja, etwas in diese Richtung.

Bader: Das Problem ist doch: Es gibt jede Menge selbsternannter Rating-Experten, die versuchen, Produkte zu vermarkten. Dieser Verselbstständigung sollte die EU mit einer klaren Struktur entgegenwirken, zum Beispiel mit einem europäischen qualitätsgesicherten Datenpool, auf den alle im Rahmen ihrer Berichterstattung über Kapitalanlagen zugreifen können. Natürlich wäre es erst einmal ein Kraftakt, so eine Datenbank aufzubauen. Aber genau hier wäre die EU in der Pflicht zu liefern, statt immer nur zu fordern.

procontra: Im Bereich grüner Versicherungsprodukte ist in Deutschland viel passiert, Ihre Konkurrenz wird größer. Wo sehen Sie sich im Marktvergleich?

Berndt: Im Moment sehen wir uns als Marktführer. Bald wird es sicherlich eine Schwemme neuer Produkte geben. Aber das drängt uns nicht zurück. Sie kennen doch den Werbeslogan für ein Schweizer Kräuterbonbon …

procontra: „Wer hat’s erfunden?“

Berndt: Ja, genau. Das gilt im Fall der Grüne Rente für uns.

procontra: Allerdings: Selbst, wenn eine Idee kopiert wird, kann das Produkt erfolgreicher werden als das Original, wenn es von anderen Anbietern besser oder günstiger angeboten wird.

Berndt: Natürlich, auch das Original muss immer wieder verbessert und hinterfragt werden. Da bleiben wir am Ball.

procontra: Sie äußerten kürzlich die Sorge, dass das Angebot grüner Finanz- und Versicherungsprodukte hinter der Nachfrage zurückbleiben könnte. Was ist zu tun, um das zu verhindern?

Berndt: Die Politik muss dringend nachhaltige Anlagen stärker fördern, insbesondere Industrien, die den Wandel zu mehr Nachhaltigkeit begleiten, vor allem Stromerzeuger. Die Digitalisierung frisst Unmengen von Strom. Aber auch beispielsweise die Stahlindustrie könnte dahingehend gefördert werden, dass sie ihre Recycling-Bemühungen ausweitet.

Bader: Joe Biden will Billionenbeträge für Nachhaltigkeitsinvestitionen ausgeben. Mehr konventionelle Unternehmen müssen sich einen Wandel im Sinne klimafreundlicher Zukunft leisten können. Sonst stürzen sich alle Finanzprodukte überspitzt gesagt auf den einen kleinen Windpark, der zur Verfügung steht.

procontra: Rechnen Sie damit, dass die Politik das hierzulande angeht?

Bader: Wenn ich sehe, was in Deutschland und der EU an Nachhaltigkeitsüberlegungen besteht, habe ich gute Hoffnung, dass vernünftige Bedingungen geschaffen werden.

procontra: In diesem Jahr findet die Bundestagswahl statt. Gäbe es eine Koalition, der sie besonders viel Kompetenz zu dem Thema zutrauen würden?

Berndt: Ich denke, die etablierten Parteien haben das Thema alle auf dem Schirm; die Groko-Parteien, die Grünen ja sowieso. Aber auch FDP und Linke haben die Aufmerksamkeit immer weiter darauf gelenkt. Als Unternehmensmanager werde ich mich hüten, hier eine Empfehlung abzugeben …

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