Martin Gräfer: „Meine erste echte Erfahrung im Beruf war ein Anschiss“
procontra:
Herr Gräfer, am 2.September 1985 haben Sie Ihre Ausbildung zum Versicherungskaufmann bei der Gothaer begonnen. Was ist Ihnen von Ihrem ersten Tag noch in Erinnerung geblieben?

Martin Gräfer:
Ich war 16, meine Mutter hat mich damals zur Firma gebracht. Ich erinnere mich an schwitzige Hände und einen Arbeitsplatz, der mir zugewiesen wurde. Es war eine Filialdirektion, und fast 25 Leute arbeiteten dort. Kaum hatte ich meine Jacke über den Stuhl gehängt, kam eine Dame auf mich zu – sie fragte mich, ob ich keine gute Erziehung hätte, weil ich meine Jacke nicht in die Garderobe hängte. Das war mein erster Anschiss. Meine erste echte Erfahrung im Beruf war also ein Anschiss.

Gräfer:
Das war eigentlich ganz einfach. Ursprünglich wollte ich Bankkaufmann werden – mein Bruder war es auch, und er hatte mir als auszubildender Bankkaufmann ein Taschengeld gezahlt. Da dachte ich mir: Das muss gut sein, das mache ich auch. Aber nachdem ich 58 Absagen auf 60 Bewerbungen bekommen hatte, wollte ich nicht mehr auf eine Bankstelle hoffen. Ich habe mich dann bei drei Versicherungsgesellschaften beworben – der Allianz, der HUK und der Gothaer. Von den ersten beiden kannte ich die Namen, bei der Gothaer hatte mein Onkel ein Mofa versichert. Und so kam ich zur Versicherung.

Gräfer:
Das war die Hochzeit des schlechten Rufs der Branche. Damals war gerade Gerhard Polt mit seinem Film „Kehraus“ in den Kinos gewesen – der Film ist ein ziemlich gutes Bild dafür, wie der Blick damals auf die Versicherungswirtschaft war. Und meine persönlichen ersten Erfahrungen mit dem Vertrieb war ein Versicherungsvertreter, bei dem meine Eltern eine Hausratversicherung abgeschlossen hatten. Der kam damals mit Goldkette, Goldringen und Pelzmantel zu uns nach Hause – den Pelzmantel hatte er dabei übrigens nicht ausgezogen. Das war schon ziemlich skurril.

Gräfer:
Ich hatte das große Glück, dass die Arbeit mit den Menschen in der Mannheimer Filialdirektion sehr angenehm war – es war wie eine erweiterte Familie. Zumal: Ich hatte das Gymnasium damals nach der 10. Klasse nicht abgebrochen, weil ich keine Lust mehr hatte. Meine Mutter hatte damals einen Laden, der nicht so gut lief, den sie aufgeben musste. Wir lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen, hochverschuldet. Mein Wunsch, wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen, war folglich sehr groß. Und ich habe es sehr genossen, das, was ich morgens in der Schule gelernt hatte, bereits nachmittags umsetzen zu können. Das fand ich wirklich toll und das hat sich seit 40 Jahren auch nicht verändert.

Gräfer:
Vor 40 Jahren war die Branche sehr bürokratisch, fast schon „beamtenähnlich“. Die Titel wie Inspektor oder Oberinspektor erinnerten an Verwaltungsbehörden. Heute ist die Branche dynamischer, agiler und moderner. Erstaunlich wenig hat sich jedoch im Verhältnis von Vertrieb und Kunden getan: Der Wunsch der Kunden nach Vertrauen ist immer noch zentral.

Gräfer:
Den Kunden an sich gibt es ja erst einmal gar nicht – dafür sind die Unterschiede zwischen Land, Stadt, Privat oder Gewerbe einfach zu groß. Was aber alle Kunden verbindet, ist – wie gesagt – der Wunsch nach Vertrauen gegenüber dem Versicherer, dem Makler etc. Das ist natürlich ein hoher Anspruch an denjenigen, der dieses Vertrauen rechtfertigen muss. Was sich geändert hat, ist das Informationsverhalten der Kunden. Früher hatten Kunden keine Informationsquelle, heute gibt es viele Plattformen zur Selbstaufklärung. Das bedeutet, dass wir nicht mehr nur Berater sind, sondern auch Diskussionspartner. Dass durch die verstärkte Selbstaufklärung allerdings die Disziplin auf Kundenseite, beispielsweise fürs Alter vorzusorgen, diametral gewachsen ist, kann ich so nicht behaupten.
procontra:
Insgesamt sind sie 25 Jahre bei der Gothaer geblieben, bis Sie dann 2010 zur damaligen BBV, der späteren Bayerischen wechselten. Was hat Sie nach so langer Zeit zu einem Wechsel bewogen?

Gräfer:
Nach meiner abgeschlossenen Ausbildung ging es beruflich für mich wahnsinnig schnell weiter. Ich war für die Gothaer in Leipzig und in Stuttgart, saß selbst an der IT-Hotline, ich war Berater für die Einführung von Laptops im Unternehmen, habe Schulungen für Powerpoint, Word und Excel gegeben. Später wurde ich dann Marketing-Chef, als es diesen Bereich in der Form noch gar nicht gab. Ich habe mit einem Kollegen das erste Großkunden-Service-Center gegründet, später war ich dann AO-Chef, dann Maklerchef. Kurzum: Ich habe so viele unterschiedliche Sachen in unterschiedlichen Positionen gemacht, dass man gar nicht sagen kann, ich hätte 25 Jahre in nur einer Firma gearbeitet.

Gräfer:
Die Lust auf Neues. Ich liebe es, Dinge aufzubauen und zu gestalten. Ich bin jetzt nicht so der Bewahrer, da gibt es andere, die das viel besser können. Ich bin – glaube ich – eher jemand, der sich darin wohlfühlt, zu verändern. Nicht um der Veränderung willen, sondern weil ich glaube, dass alles in Bewegung bleibt, man selber idealerweise auch. Und nach 25 Jahren bei der Gothaer hatte ich das Gefühl, dass es Zeit für etwas Neues ist. Zu dem Zeitpunkt hatte mich ein Personalberater auf die damalige BBV angesprochen. Von denen hatte ich ehrlicherweise noch nie etwas gehört gehabt bis auf eine Überschrift von Herbert Fromme damals in der Financial Times: „BBV, erstes Opfer der Finanzkrise?“ Das klang nach dem Eldorado für Veränderung. Es gab ja auch keine Alternative.

Gräfer:
Die BBV hatte 2009/2010 praktisch eine Nahtoderfahrung. Das war damals meines Wissens der erste Versicherer, der betriebsbedingte Kündigungen hatte aussprechen müssen. Es gab Probleme bei der Kapitalanlage, der Umsatz war zusammengebrochen, 20 Prozent der Belegschaft wurden abgebaut, der Ausschließlichkeitsvertrieb war von ungefähr 1.600 auf 200 Leute zusammengestrichen worden. Und auch optisch war das da alles andere als ansprechend: In den Fluren dunkelbraune Teppiche, kombiniert mit dunkelbraunen Türen – es war ein Muff wie in einer Beamtenstube in den 70er-Jahren. Was mich aber positiv gestimmt hat: Bei den Mitarbeitern herrschte eine sehr große Veränderungsbereitschaft. Trotz der sehr schwierigen Ausgangsposition gab es sehr viele, die Lust hatten, anzupacken und Sachen zu verändern.

Gräfer:
Ich erinnere mich an eine Situation bei der Gothaer. Damals wurde die Überschussbeteiligung bei laufenden Renten zweimal in einem Jahr reduziert. Das ist glaub ich auch ein Unikum gewesen. Ich als Marketingchef musste das dann verkaufen, ohne jedoch die Hintergründe zu kennen. Der Vorstand hat uns einfach zur Umsetzung verdonnert.
Seitdem bin ich überzeugt, dass man Veränderungsbereitschaft nicht durch Druck erzeugt, sondern indem du möglichst viele Menschen mitnimmst. Natürlich stellt das auch ein Risiko dar, auch weil man womöglich nicht auf jede Frage eine Antwort hat. Vielleicht verlierst du auch gute Leute, weil die keine Lust haben auf Krise. Aber meiner Meinung nach hat es viel mehr gebracht, aus seiner Meinung bzw. der Situation keine Mördergrube zu machen, sondern die Situation so zu schildern, wie sie ist. Die Leute sind dann zu Veränderungen bereit, wenn sie das Gefühl haben, selbst im Cockpit zu sitzen, mitgestalten zu können und ernst genommen zu werden. Dabei spielen Hierarchien übrigens eine erstaunlich geringe Rolle.

Gräfer:
Zur Klarstellung: Nicht ich allein habe Veränderungen angeschoben, das war immer ein Team. Besonders stolz bin ich aber auf das Rebranding der BBV zur Bayerischen. Dieser Markenwechsel war ein riesiger Schritt, den wir praktisch ohne Budget vollzogen haben. Meine erste Kampagne bestand darin, 6.000 Makler anzuschreiben und mich praktisch bei denen zu bewerben, mit ihnen Geschäft machen zu dürfen.
Die zweite wichtige Veränderung war ein Transformationsprogramm, das wir angestoßen haben. „Die Bayerische goes Amazon“. Ich habe im Haus die These verbreitet, dass ein Versicherer praktisch ein Technologieunternehmen ist, das seinen Kunden stets im Fokus haben muss. Daraus haben wir dann die Bayerische-DNA kreiert.
Und die dritte große Veränderung, auf die ich stolz zurückblicke, ist die Gründung von Pangaea Life. Damit waren wir sicher im Hinblick auf „nachhaltige Transformation“ einer der Pioniere.

Gräfer:
Mich ärgert nach wie vor, wie der Vertrieb wahrgenommen wird. Also dieses leicht mit gerümpfter Nase Sprechen über Menschen, die im Versicherungsvertrieb tätig sind. Das ist ein hoch anständiger, wahnsinnig wichtiger Beruf. Und ich ärgere mich auch darüber, dass so große Themen wie eine Rentenreform seit Jahrzehnten nicht wirklich angepackt werden, obwohl wir sehenden Auges in eine Demografie-Krise laufen.

Gräfer:
Ich ärgere mich über Kolleginnen und Kollegen, denen alles wichtiger ist als der Kunde.

Gräfer:
An dem Namen unseres damaligen Programms „Die Bayerische goes Amazon“ ist schon eine ganze Menge dran. Hier gefällt mir einfach diese konsequente Ausrichtung auf den Kunden, dieses Bestreben, die Prozesse für diesen stets einfacher zu machen.
Dieses Denken fehlt bei uns teils in der Branche. Es fängt bei Kleinigkeiten an, auch in der Sprache. Warum heißt ein Versicherungsantrag eigentlich Antrag? In jeder anderen Branche heißt es Auftrag oder Bestellung, für den bzw. die man sich bedankt. Bei uns ist der Kunde, der uns einen Auftrag erteilt, jedoch ein Antragsteller. Das ist jetzt nur ein Wort, aber unsere Sprache bedingt auch unser Denken.

Gräfer:
Es gibt immer wieder Vorschläge, beispielsweise auch damals in meinem alten Haus, keine Beitragsrechnungen an die Kunden mehr zu verschicken. Denn: Jedes Mal, wenn die Rechnungen rausgehen, steigen die Kündigungen. Schickt man folglich keine Rechnungen raus, kassiert man nach dieser Logik auch keine Kündigungen. Das ist eine Einstellung, mit der ich sehr schlecht leben kann. Darüber hinaus gibt es aber noch weitere Bereiche, in denen die Branche nach Innovation schreit. Beispiel Rentenversicherungen. Viele Kunden wählen hier die Kapitalauszahlung und nicht die Verrentung – das ist aber nicht unsere Leistung. Unsere Leistung ist die Rente. Wir müssen viel flexibler werden – gerade in Vergütungsfragen. Und wir brauchen mehr Kreativität, auch gestützt durch Digitalisierung und KI. Hier ist viel mehr möglich und immer mehr auch erlebbar. Das ist jetzt gerade eine neue Stunde null.
procontra:
Große Veränderungen sind derzeit ja auch auf dem Maklermarkt feststellbar. Wie blicken Sie als Versicherer, der stark auf freie Vermittler setzt, auf die aktuellen Entwicklungen?

Gräfer:
Zum Teil mit Fragezeichen. Dass internationale Geldgeber im deutschen Maklermarkt große Gewinne vermuten, ist zwar schön, aber ich bin mir nicht sicher, welche Geschäftsmodell-Idee dahintersteckt. Geht es nur darum, Bestände und Bestandsprovisionen zu optimieren? Oder geht es tatsächlich auch um Mehrwerte für alle Beteiligten? Da sind für mich noch Fragen offen.
Darüber hinaus sehe ich, dass wir als Branche Schwierigkeiten haben, junge Menschen für die Branche zu gewinnen, insbesondere als Unternehmer, als Makler bzw. Maklerin. Auch wenn wir manches Demografieproblem innerbetrieblich durch effizientere Prozesse lösen können, brauchen wir Menschen, die Lust haben, sich mit einer anderen Denke auf die Branche einzulassen – dann ist aus meiner Sicht vor allem die Vertriebstätigkeit auch absolut zukunftsträchtig.
procontra:
Sie thematisieren als Vorstand gerne auch mal Probleme oder Gegebenheiten außerhalb der Branche und beziehen hier Position. Gerade in einer immer stärker polarisierten Welt: Ist das immer eine gute Idee? Oder werden Sie da auch einmal zurückgehalten?

Gräfer:
Nein, ich werde weder ausgebremst, noch gibt es Ärger. Ich verändere mit meinen Aussagen auch nicht die Welt. Aber offenbar werden die Bayerische als Unternehmen und ich als Person dadurch als nahbarer wahrgenommen. Natürlich wäre es wahrscheinlich etwas anderes, wenn ich für ein börsennotiertes Unternehmen arbeiten würde. Die Bayerische hat aber gemeinsame Werte: Wir sind eher liberal, menschenfreundlich und eher Regenbogen statt Braun. Diese Werte zu vertreten, finde ich wichtig. Die Netzwerke nur denen zu überlassen, die eine andere Meinung haben, finde ich nicht richtig. So kann man anderen zeigen: Du bist nicht allein.
procontra:
40 Jahre haben Sie hinter sich, ein paar aber noch vor sich. Was liegt Ihnen dabei näher: Rente mit 63 oder Rente mit 70? Und was kommt danach?

Gräfer:
Also, ich habe ja schon gesagt: Mit 66 möchte ich Versicherungsmakler werden, und dafür fange ich jetzt schon an, mich vorzubereiten. Mein Kollege Max Buddecke unterstützt mich dabei, damit ich in zehn Jahren dann auch fit bin. Vorher freue ich mich aber noch auf die nächsten 9, 10 Jahre im Beruf. Und ich strebe eine andere Art von Vorruhestand an – eher ein langsames Ausklingen mit geteilter Verantwortung als ein abruptes Abstellen. Zweiteres ist weder für das Unternehmen noch für den Menschen gut, das habe ich schon selbst bei Kollegen beobachten können. Da muss es andere Formen geben. Aber ich bin relativ sicher, dass mir da in den noch folgenden 10 Jahren etwas einfallen wird.
Long Story short
Martin Gräfer blickt auf eine 40-jährige Karriere in der Versicherungsbranche zurück, die 1985 bei der Gothaer begann. Im Interview spricht er über seinen Start in der Branche, die Umwandlung der BBV zur Bayerischen und die aktuellen Herausforderungen der Branche.