pro&contra

Sind Insurtechs gescheitert?

Insurtechs sorgen seit geraumer Zeit immer wieder für Negativschlagzeilen. Jüngstes Beispiel: die drohende Pleite von Element aus Berlin. Sind Insurtechs also gescheitert? Ja, findet Stephen Voss, CEO der Neodigital Versicherung. Robin Kiera, CEO der Marketingagentur Digitalscouting, sieht das etwas anders. Am Ende liegen beide Positionen aber gar nicht so weit auseinander.

Author_image
07:01 Uhr | 24. Januar | 2025
Stephen Voss, CEO der Neodigital Versicherung AG, und Dr. Robin Kiera, Versicherungsexperte und CEO der Marketingagentur Digitalscouting

Blicken unterschiedlich auf die Insurtech-Branche: Stephen Voss, CEO der Neodigital Versicherung AG, und Dr. Robin Kiera, Versicherungsexperte und CEO der Marketingagentur Digitalscouting

| Quelle: Neodigital / Digitalscouting

pro: „Die Masse der selbsternannten ,Disruptoren‘ ist gescheitert"

Stephen Voss, CEO der Neodigital Versicherung

Sind Insurtechs gescheitert? Im Prinzip muss die Antwort „Ja“ lauten und ich verstehe, dass eine solche Antwort, insbesondere von einem vermeintlich ehemaligen Insurtech, bei einigen Marktteilnehmern für Verwunderung sorgen wird. Vergleicht man jedoch die Ansprüche, Absichten und das Selbstverständnis mit denen Insurtechs einst gestartet sind, mit der heutigen Situation, dann kommt man – auch als Insurtech selbst – eigentlich zu keinem anderen Schluss: Die Insurtech-Szene mit ihrer „Wir krempeln hier alles um und zeigen den ,alten’ Hasen wie es geht“-Einstellung kann ihrer einstigen Ambition damit kaum gerecht werden.

Wie kam es dazu? Blickt man auf die Hochphase der Gründungen Mitte der 2010er-Jahre zurück, so wurde vielerorts proklamiert, Insurtechs seien disruptiv, die einzigen Innovatoren am Markt und würden die Versicherungsbranche von Grund auf revolutionieren.

Die einen proklamierten, mit einer genialen Idee den direkteren Zugang zum Kunden zu haben, die anderen wollten das beste Produkt aller Zeiten gebaut haben und wieder andere meinten, die Kundenwünsche viel besser zu verstehen als der gesamte Rest der – in vermeintlich alten, verstaubten Mustern verhafteten – Versicherungsunternehmen.

Der deutsche Versicherungsmarkt ist komplex

Die neuen Marktteilnehmer hatten in der Theorie schöne Konzepte. Aber der Versicherungsmarkt, insbesondere der deutsche, ist komplex und vielschichtig. Das Spielfeld ist hier zu Recht sehr genau reguliert und erlaubt – zum Glück – keine komplette „Amazonisierung“ wie etwa im Handel.

Was bei Amazon & Co funktioniert, funktioniert auch beim Versicherten? Weit gefehlt, und trotzdem haben das Marktteilnehmer immer wieder als Kundenwunsch Nr. 1 der Versicherten und damit als Unternehmensziel ausgegeben. Ein Großteil der durchaus guten und ambitionierten Ideen scheiterte häufig auch einfach an der Umsetzung. Hier zeigte sich schnell, wer sich in der Branche und mit der Technik auskennt und wer einfach nur mal eben schnell das neu gelernte Digitale einer anderen Branche locker auf die Versicherungsbranche übertragen wollte.

Versicherungen werden verkauft

Das war zu naiv. Warum? Weil dabei oftmals vergessen wurde, dass die deutschen Versicherungskunden sich bereits über Jahrzehnte und über Generationen hinweg in diesem Markt bewegen. Wen fragt ein junger Erwachsener gemeinhin zuerst, wenn er eine Versicherung braucht? Richtig, Mama und Papa.

Es sind die Eltern, die Familie und dann erst andere Berater, die das Wissen um Produkte, Sparten, und die Lebensbereiche vermitteln, die man versichern muss. Da liegt auch der Knackpunkt, denn sie müssen sich versichern – die wenigsten wollen sich versichern. Und dennoch brauchen sie eine Versicherung. Die Erkenntnis dazu kommt aber nicht nach dem Aufstehen spontan und selbstmotiviert. Die Notwendigkeit dazu wird zumeist von außen aufgezeigt. Kurzum: Versicherungen werden verkauft.  

Kunden werden über verschiedenste Wege informiert und zu ihren Risiken aufgeklärt. Sie vertrauen den bekannten Vertriebsformen und Versicherungspartnern. Seit den 2000er Jahren kamen dann noch die großen Online-Vergleicher hinzu, deren Marktanteil seitdem kontinuierlich wächst. That’s it! Solche eingeschwungenen Kundenbeziehungen quasi über Nacht auf Links drehen zu wollen – auch wenn das digitale Konzept auf dem Papier überzeugte – war bestenfalls ambitioniert, schlimmstenfalls jedoch schlicht überheblich.

Ich bestreite überhaupt nicht, dass das eine oder andere clevere Modell funktionieren kann, das neue Wege, wie Kunden über Social Media zu erreichen, falsch wären, ganz im Gegenteil wird das ein immer wichtigerer Baustein und muss im Marketingmix geschickt eingesetzt werden. Was ich sage ist, dass es die eine superschlaue Insurtech-Lösung, die eine bahnbrechende Idee, die etablierte Versicherer mit einem Schlag überflüssig macht, nicht gab und nicht gibt. Eine schicke fancy App, eine gute shiny Idee und eine digitale Verbesserung im komplexen Versicherungsprozess oder eine revolutionäre neue Police reichen einfach nicht aus, um eine ganze Branche zu disruptieren.

Mit dem Attribut „disruptiv“ habe ich ohnehin schon immer gefremdelt. Und schaut man auf die letzten zehn Jahre zurück, war das auch richtig so. Gemessen an den eigenen ursprünglich proklamierten Maßstäben der Insurtechs hat die Disruption nicht stattgefunden aus all den voran beschriebenen guten Gründen. Ähnlich verhält es sich mit der Revolution, die sie im Markt ausgelöst haben.

Fazit: Der Markt hat den Impuls gebraucht

Und dennoch ist nicht alles gescheitert: Im Gegenteil, der Markt hat den Impuls gebraucht, neue digitale Technologien wurden auf den Weg gebracht und Versicherung wird heute anders gedacht als noch vor zehn Jahren. Das Umdecken in den Köpfen hat stattgefunden.

Die COVID-Pandemie war wie ein Brennglas für die Schwachstellen in den alten Prozessen und hat die Transformation nochmal beschleunigt, aber es war nie die Frage, ob sich die Branche digitalisiert, sondern nur wann. Langsam, aber sicher verbannt die Digitalisierung die alten Hängeordner in den Aktenschrank und Schäden werden in Stunden anstatt in Monaten reguliert. Diesen Beitrag haben einzelne clevere Insurtechs durchaus geleistet. Die Masse der selbsternannten „Disruptoren“ ist jedoch gescheitert.

contra: „Insurtech tritt gerade den Marsch durch die Institutionen an"

Dr. Robin Kiera, Versicherungsexperte und CEO der Marketingagentur Digitalscouting

Nach dem Scheitern der Revolution kommt nun der Marsch durch die Institutionen. Die 1968er sind mit dem Anliegen, die BRD in eine sozialistische Muster-Republik zu verwandeln, oder anderer naiver bis größenwahnsinniger Ziele, krachend gescheitert. 1989 gingen die sozialistischen Systeme unter - nicht der freie Westen. 

Dies ist mit der Insurtech-Revolution auch so. Lemonade, Wefox, Coya, und Element oder auch IptiQ haben Allianz, Ergo, Talanx und R+V nicht verdrängt. Fast kein Versicherer hat heute Probleme aufgrund von Insurtech-Erstversicherern. Ist Insurtech also tot? Nein, Insurtech tritt gerade den Marsch durch die Institutionen an. Merkt nur fast keiner.

Junge Führungskräfte und frischer Wind

Ein bemerkenswerter Wandel zeigt sich in der Personalstruktur vieler Versicherer. Junge, dynamische Führungskräfte besetzen zunehmend Schlüsselpositionen in den Vorständen und als Bereichsleiter und ergänzen seniorige Entscheider zunehmend. Die neue Führung der BarmeniaGothaer aber auch viele Vorstandsberufungen der letzten 24 Monate zeigen dies.

Diese neue Generation bringt frische Perspektiven und eine hohe Affinität zu digitalen Technologien mit, was die Innovationskraft der Unternehmen stärkt. Sie sind bereit, traditionelle Prozesse zu hinterfragen und mutige Entscheidungen zu treffen, um den digitalen Wandel voranzutreiben. Ohne den Druck der Insurtech-Angreifer hätte es Aufsichtsräte und Vorstände sicherlich nicht in der großen Zahl dazu motiviert, den oder (auch endlich) die eine junge Kandidatin zu befördern. Und zwar ohne in einen Jugendkult zu verfallen, sondern richtig starke Professionals mit beeindruckenden Vitas eine Chance zu geben.

Technologieanbieter als Treiber der Innovation

Parallel dazu hat sich ein Ökosystem von Technologieanbietern entwickelt, die spezialisierte Lösungen für die Versicherungsbranche bereitstellen. Dies gab es mit msg, Guidewire, red6 und den Beratungshäusern von Bearingpoint, PPI bis BCG immer. Aber auch neue Anbieter, wie beispielsweise Friss, K2G, Nextway, kamen mit KI Lösungen von Antrag- bis Schaden auf den Markt. Gleichzeitig sahen sich traditionelle Anbieter gezwungen, massiv zu modernisieren.

Diese Partner ermöglichen es Versicherern, ihre digitalen Angebote zu erweitern und effizienter zu gestalten. Von KI-gestützten Schadenmanagementsystemen bis hin zu innovativen Underwriting-Plattformen – die Zusammenarbeit mit Tech-Unternehmen beschleunigt die digitale Transformation und erhöht die Wettbewerbsfähigkeit.

Gerade von 2017-2020 probierten viele Entscheider neue Technologien und Anbieter aus. Klar, revolutionierte nicht jedes hippe Start-Up die jahrhundertealte Branche. Aber heute sind in vielen Bereichen andere und neuere Technologien und Anbieter im Einsatz als 2007. Und das ist gut so.

Social Media: Mehr als nur Marketing

Social Media hat sich als unverzichtbarer Bestandteil der Unternehmensstrategie etabliert. Versicherer nutzen Plattformen wie LinkedIn, Twitter und TikTok nicht nur für Marketingzwecke, sondern auch zur Kundenbindung, für den Vertrieb und als Rekrutierungswerkzeug. Durch authentische Kommunikation und direkte Interaktion mit Kunden und Interessenten stärken sie ihre Markenpräsenz und gewinnen wertvolle Einblicke in Kundenbedürfnisse. 

Einige Versicherer und Assekuradeure erreichen Millionen Menschen jeden Monat durch Social Media für einen Bruchteil der Kosten etablierter Kanäle. Bestes Beispiel ist der Oldtimer Assekuradeur OCC (eine Tochter der Provinzial) aus Lübeck oder die Deutsche Familienversicherung.

Erfolgsstories

Neben den Insurtech mit Problemen dürfen wir aber auch nicht die – auch deutschen – Erfolgsgeschichten vergessen, ob Clark, Deutsche Familienversicherung, Neodigital, andsafe oder Getsafe. Diese waren vielleicht nicht so laut und offensiv wie andere, dennoch haben sie sich in vielen Fällen etabliert – teilweise mit beachtlichen betriebswirtschaftlichen Erfolgen. 

Es spricht zwar einiges, aber nicht alles dagegen, dass immer wieder auch neue Insurtech-Player in Deutschland erscheinen. Es ist nicht einfach, aber nicht unmöglich.

Fazit: Ein Blick nach vorn

Trotz der Herausforderungen, mit denen einige Insurtechs konfrontiert sind, ist die Bewegung keineswegs gescheitert. Im Gegenteil: Sie hat einen Wandel initiiert, der die Versicherungsbranche zukunftsfähig macht. Die Integration junger Talente, die Zusammenarbeit mit Technologieanbietern und die strategische Nutzung von Social Media sind klare Indikatoren dafür, dass Insurtech lebt und die Branche nachhaltig verändert. Insurtech tritt den Marsch durch die Institutionen an. Und zwar die Versicherungsinsitutionen.

Es liegt nun an den etablierten Versicherern, diese Entwicklungen nicht nur zu beobachten, sondern weiterhin aktiv mitzugestalten.  Die Zukunft gehört denen, die bereit sind, sich zu wandeln und Innovation als Chance zu begreifen.

Sind Insurtechs gescheitert?