BU ohne konkrete Verweisung: Innovation oder Gefahr für die Preisstabilität
Die HDI Lebensversicherung verzichtet seit Anfang des Jahres als erster Versicherer bei ihrem BU-Schutz EGO Top vollständig auf die Regelungen zur konkreten Verweisung – sowohl in der Erst- als auch in der Nachprüfung. Eine neue Benchmark für die Berufsunfähigkeitsversicherung, findet HDI-Vorstand Fabian von Löbbecke.
Versicherungsmakler und BU-Experte Tobias Bierl von der Finanzberatung Bierl sieht das indes nicht ganz so positiv. Er sorgt sich um die Stabilität des Kollektivs. Wir haben beide Meinungen gegenübergestellt.
pro: „Von dem BU-Verweisungsverzicht profitieren alle“
Fabian von Löbbecke, im Vorstand der HDI Lebensversicherung AG verantwortlich für den Bereich Neugeschäft Leben und betriebliche Altersversorgung
Wir nehmen sehr wohl zur Kenntnis, dass sich einige Marktteilnehmer um unsere Preisstabilität sorgen. Dazu möchten wir festhalten: Wir sind seit über 100 Jahren im Bereich der Arbeitskraftabsicherung tätig. Kurzum: Wir verfügen über eine lange, seriöse und verlässliche Historie in der Berufsunfähigkeitsversicherung (BU).
Unser Tarif EGO Top steht seit Einführung im Jahr 1998 für nachhaltig gemanagte Kollektive. Wir haben uns nie an ruinösen Preiskämpfen oder grob durchlässigen Aktionen in der Risikoprüfung beteiligt. Unsere Kalkulation ist auf Stabilität und Zukunftsfähigkeit ausgerichtet. Zusätzlich unterliegen unsere Kollektive einem strengen und wirkungsvollen Controlling.
Wenn wir über den Verzicht auf die konkrete Verweisung sprechen, ist es uns daher wichtig, den Kontext klarzustellen: Durch unseren seit 1998 bestehenden Verweisungsverzicht in der Erstprüfung, strengen Voraussetzungen in der Nachprüfung und rückläufigen Zahlen in der Verweisung stützt sich unsere Entscheidung auf den vollständigen Verweisungsverzicht auf eine umfangreiche und fundierte Datenlage.
Der Prozess wurde in enger Zusammenarbeit mit unserem erfahrenen Rückversicherer durchgeführt. Übrigens: Natürlich überprüfen wir auch weiterhin, ob eine gesundheitliche Verbesserung eingetreten ist und somit keine BU mehr vorliegt. Damit endet auch weiterhin unsere Leistungspflicht.
Weniger Komplexität in der Beratung
Mit dem vollständigen Verzicht auf die abstrakte und konkrete Verweisung sowohl in der Erst- als auch in der Nachprüfung nehmen wir Komplexität aus der Beratung. Denn die Frage, ob es sich bei einer neuen Tätigkeit, die nach anerkannter Berufsunfähigkeit aufgenommen wird, um eine Verweisungstätigkeit handelt, die zum Wegfall der BU-Leistungen führen könnte, ist selbst für Experten nicht immer eindeutig. Gerade bei der konkreten Verweisung wird daher häufig in Gerichtsprozessen gestritten, was dem Vertrauen der Kunden in eine Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) nicht zuträglich ist. Diese Unsicherheiten haben wir mit dem Verweisungsverzicht abgeschafft – und das ist eine Revolution im BU-Markt.
Bei uns gilt seit Anfang des Jahres: Solange eine Berufsunfähigkeit für den zuletzt ausgeübten Beruf besteht, wird die vereinbarte BU-Rente gezahlt – unabhängig davon, ob die versicherte Person zwischenzeitlich einen anderen Beruf aufgenommen hat. Damit schaffen wir Klarheit. Wir vereinfachen aufwendige Prozesse und gleichzeitig bieten wir rechtliche Sicherheit in einem umstrittenen Thema – und das ohne Preiserhöhung und ohne das Versichertenkollektiv zu belasten.
Unsere jahrzehntelange Expertise in Fragen der Arbeitskraftabsicherung ist in der Branche unbestritten. Mit unserer Berufsunfähigkeitsversicherung EGO Top setzen wir seit über 25 Jahren Maßstäbe im Markt. Das gilt sowohl für das Bedingungswerk, die Produktfeatures, Services und vor allem die Preisstabilität. Das Produkt ist im BU-Markt zu Recht die Benchmark. Wir sind überzeugt: Vom vollständigen Verweisungsverzicht profitieren Kunden, Vertriebspartner und wir als Versicherer. Erste Gesellschaften folgen bereits unserem Beispiel und das ist aus unserer Sicht erst der Anfang.
contra: „Das Versichertenkollektiv kann nachhaltig geschädigt werden"
Tobias Bierl, auf Arbeitskraftabsicherung spezialisierter Makler von der Finanzberatung Bierl
Der Vorteil beim Verzicht auf die konkrete Verweisung liegt auf der Hand. Kann der Maurer seinen Beruf wegen eines Bandscheibenvorfalls nicht mehr ausüben und schult aus eigenem Antrieb zum Bauzeichner um, würde die Person neben dem neuen Gehalt auch weiterhin die BU-Rente bekommen. Die versicherte Person kann sich somit über zwei Einnahmequellen erfreuen.
Könnte der Versicherer konkret verweisen, würde die Leistung eingestellt werden. Da zum einen das Gehalt eines Bauzeichners ähnlich sein dürfte, sowie zum anderen auch die soziale Wertschätzung. Oder ein Auszubildender als Schreiner, der am zweiten Tag seiner Ausbildung feststellt, dass er an einer Holzstauballergie leidet und somit den Beruf nicht erlernen kann. Klarer Fall von Berufsunfähigkeit. Leistung würde es bis zum abgeschlossenen Endalter geben, im optimistischsten Fall durchaus ein halbes Jahrhundert (!), sollte unser Azubi des Schreinerhandwerks jetzt doch noch einen Bürojob ausüben.
Trotzdem – oder besser gesagt, genau aus diesem Grund – sehe ich einen kompletten Verzicht auf die konkrete Verweisung eher kritisch. Was ist eigentlich der Grundgedanke einer Berufsunfähigkeitsversicherung? Sie soll Lebensrisiken auffangen, die ein Mensch selber nicht mehr bewältigen kann. Deshalb ist die BU-Versicherung auch so wichtig. Aber übt nun jemand aus freien Stücken einen neuen Beruf mit ähnlichem Gehalt und Lebensstellung aus, warum sollte weiterhin geleistet werden? Hier muss ich einen folgenden Satz noch anbringen: „Alles was gut für den einzelnen ist, kann sich negativ auf das Kollektiv auswirken."
Die Margen in der BU werden immer geringer
Schon jetzt pfeifen die Spatzen es von den Dächern. Die Margen in der Berufsunfähigkeitsversicherung werden immer geringer, teilweise sind laut einigen Marktbeobachtern die Tarife teilweise massiv unterkalkuliert. Die Tarife werden aber immer besser, kundenfreundlicher und flexibler. Es ist mittlerweile ein Hauen und Stechen bei den guten Tarifen und viele Vermittler verkaufen nur über den Preis.
Jetzt kommt auch noch der Verzicht auf die konkrete Verweisung mit ins Spiel, was den Sprengstoff besitzen würde, ein Kollektiv nachhaltig zu schädigen. Dieses Feature des Verzichts auf die konkrete Verweisung wird sich aber erst in einigen Jahren bis Jahrzehnten in den Leistungsfällen widerspiegeln, sodass jetzt natürlich damit hausiert gegangen werden kann. Leider sind einige Marktentwicklungen in der Arbeitskraftabsicherung in meinen Augen extrem kurz gedacht.
Für Akademiker weniger relevant
Eingeführt hat den kompletten Verzicht auf die konkrete Verweisung die HDI Versicherung, welche eine Zielgruppe bei Kammerberufen und vielen weiteren akademischen Werdegängen besitzt. Für diese ist der Verzicht auf die konkrete Verweisung auf dem Papier gut, berate ich meine Interessenten in der Berufsunfähigkeitsversicherung, wird die Begeisterung schon weniger.
Ein Versicherer kann nämlich den Rechtsanwalt praktisch nur verweisen, falls dieser einen Job ausübt, welcher ungefähr dasselbe Einkommen und dieselbe soziale Wertschätzung beinhaltet – grob erklärt. Bei einem Rechtsanwalt faktisch nicht möglich. Aus diesem Grund haben ja auch Versicherer wie die Baloise, Nürnberger oder die DANV, Tochter der Ergo, den Verzicht auf die konkrete Verweisung in ihren Bedingungen für Kammerberufe geregelt.
Kostenfrei eingebaut, da in der Praxis eine Verweisung quasi eh nicht vorkommt. Bei der HDI ist es aber anders und gilt für alle Berufe. Somit kann sich auch schon der Schüler und der Auszubildende jeglicher Fachrichtung diesen Mehrwert sichern. Für das Kollektiv kann dies aber durchaus langfristig eine Beeinträchtigung sein, da die Leistungsfälle zunehmen dürften.
Einen interessanten Weg geht hierbei in meinen Augen die Bayerische, welche seit dem Sommerupdate 2024 auch den Verzicht auf die konkrete Verweisung anbietet, aber in einem Extrabaustein namens Prestige mit einem Preisschild von an die knapp 20 Prozent. (Der Fairness halber muss man sagen, dass es zudem noch zwei, drei weitere Mehrwerte im Tarif Prestige gibt.) Somit zahlt die eine Person für diesen unbestrittenen Mehrwert mehr und belastet somit nicht das gesamte Kollektiv. Einen Weg, welchen in meinen Augen weitere Versicherer gehen werden, falls der Verzicht auf die konkrete Verweisung für alle Berufe Einzug halten soll im Markt.
Der Vermittler sollte und muss das Thema trotzdem kurz ansprechen
Es ist schön und gut, wenn ich persönlich diese Thematik für das langfristige Versichertenkollektiv als negativ ansehe und somit entweder Druck auf die Beitragsstabilität der Tarife vermute oder sich dies vielleicht auch in einer rigiden Leistungsfallprüfung niederschlägt. Aber dem Betroffenen im Einzelfall hilft dies wenig. Ich sehe jetzt schon „findige" Rechtsanwälte, die sich darauf spezialisiert haben, den Versicherungsvermittler in die Pfanne zu hauen und auf Schadensersatz zu verklagen, da er seinem Kunden keine BU-Versicherung mit dem Verzicht auf die konkrete Verweisung anbot. Somit sollten Kollegen die Thematik unbedingt mit in die Beratung einbauen und die Kunden darauf hinweisen und dies auch protokollieren.