Kolumne

KI statt Vermittler?

Vor fast zwei Jahren hat ChatGPT einen Hype um die Künstliche Intelligenz (KI) ausgelöst. Was davon für den Versicherungsvertrieb relevant ist, beschreibt Professor Matthias Beenken in seiner Kolumne.

09:08 Uhr | 27. August | 2024
30 Stunden Bildungsaufwand wären in bestimmten Fällen vertretbar

Matthias Beenken, Professor für Versicherungswirtschaft an der FH Dortmund, sucht in der vielseitigen Diskussion rund um EU-Kleinanlegerstrategie und IDD nach einem sinnvollen Kompromiss.

| Quelle: privat

Der Begriff der Künstlichen Intelligenz (KI) ist laut EU-Parlament „die Fähigkeit einer Maschine, menschliche Fähigkeiten wie logisches Denken, Lernen, Planen und Kreativität zu imitieren“. KI ist sehr viel älter als ChatGPT, aber der Start dieses „Large Language Models“ hatte Ende 2022 eine Begeisterungswelle ausgelöst.

Tatsächlich wird KI schon in vielen Alltagsbereichen auch des Vertriebs genutzt. Die meisten modernen Dienstwagen reagieren auf Spracheingaben wie beispielsweise dem Navigationsziel oder beantworten die Frage nach dem Wetter am Zielort oder einer Tankstelle am Weg. Smarthome-Anwendungen werden auch in Vermittlerbüros eingesetzt. Aktuell führen immer mehr Suchmaschinen- und die Bürosoftware-Betreiber digitale Assistenten ein, die dem Vertriebler beim Formulieren einer E-Mail helfen, längere Texte zusammenfassen und fachliche Fragen beantworten.

Auch Versicherungsunternehmen setzen solche Anwendungen ein. Älter und meist noch nicht mit KI aufgerüstet sind die Chatbots, die den Besuchern von Internetseiten oder Anrufern an der Hotline helfen, schneller und möglichst automatisiert zu einer Antwort zu kommen. Das spart Personalkapazität. Der Anwendungsbereich bleibt aber auf wenige, hochstandardisierte und häufige Vorgänge wie das Beantworten von Kundenanfragen nach den Gründen für einen Beitragsanpassung in der Krankenversicherung begrenzt.

Vertriebsabteilungen nutzen Datenanalysen mit intelligenten Werkzeugen, um vorauszusagen, an welchem Versicherungsangebot ein Kunde als nächstes interessiert sein könnte. Damit kann man zum einen wiederum Internetbesucher lenken, zum anderen aber auch Besuchsaufträge an die Versicherungsvertreter generieren. Makler bekommen die Möglichkeit, sich die lästige Arbeit der laufenden Überprüfung und Aktualisierung von Bestandsverträgen abnehmen zu lassen, indem digitale Versicherungsverwalter mit KI-Tools nachgerüstet werden.

Wird der Mensch überflüssig?

Ist das alles geeignet, den traditionellen, menschengebundenen Vertrieb überflüssig oder zum Statisten einer schönen neuen KI-Welt zu machen? Solche Visionen werden gerne von Beratern beschworen. Es geht ihnen aber meist um Aufträge von verängstigten Versicherern, die nicht den nächsten Trend verpassen wollen. Wie schon oft in der Vergangenheit sind solche Szenarien übertrieben. Gleichzeitig muss sich der Vertrieb anpassen und lernen, KI als Werkzeug für bestimmte Aufgaben wertzuschätzen.

Ein begrenzender Faktor ist, dass die heute übliche KI nicht im eigentlichen Sinn „intelligent“ ist. Sie ist gut darin, statistische Prognosen auf Basis vorhandener Daten zu erstellen. Entscheidend sind: vorhandene Daten. Dazu gibt es zahllose Beispiele von ChatGPT und anderen Sprachmodellen, die mit frei zugänglichen Internet-Inhalten trainiert wurden und deshalb „fantasieren“. Die Antworten klingen zwar außerordentlich überzeugend, sind aber inhaltlich falsch.

Fantastische Antworten braucht niemand

Man stelle sich einen KI-Chatbot vor, der sich auf allgemeine Internet-Daten stützt und Kunden ungehindert Antworten zum Versicherungsumfang eines Anbieters geben soll. Das kann nicht gutgehen. Deshalb entwickeln die Versicherer interne, abgeschottete Sprachmodelle, die nur mit eigenen Daten trainiert werden. Diese können Fragen zu den Versicherungsbedingungen des eigenen Hauses beantworten. Das kann eine wertvolle Hilfe für den Innendienst sein, wenn junge unerfahrene Schadensachbearbeiter nicht wissen, in welchem historischen Bedingungsstand welche Leistungen vorgesehen waren und für die Regulierung relevant sind. „Alte Hasen“ werden das eher selten brauchen.

So ähnlich dürfte es auch im Vertrieb sein. Erstens ist es nicht so, dass Kunden von morgens bis abends ausschließlich tief fundierte Spezialfragen zu den Bedingungen ihrer Versicherungen stellen, für die intelligente Suchassistenten notwendig wären. Oftmals sind es eher banale Alltagsfragen. Und auch hier wissen die „Alten Hasen“ auch ohne digitalen Assistenten, welche Antworten sie geben können.

Direktvertrieb wird bereichert

Eine komplette Selbstberatung des Kunden mit KI-Tools, die zum Abschluss ohne Einschaltung eines Vermittlers führt, wird es auch in Zukunft nur da geben, wo das auch bisher schon funktioniert: Bei sehr einfachen Standardprodukten und bei Pflichtversicherungen, um die sich Kunden eigenmotiviert kümmern müssen. Da können KI-Tools die Qualität der Hilfestellungen verbessern.

Produkte, bei denen hohe Kaufwiderstände überwunden werden müssen, weil man langfristige Verpflichtungen mit einer Altersvorsorge oder einer privaten Krankenvollversicherung eingeht, werden auch in Zukunft überwiegend von Menschen verkauft werden. Keine Software kann den tiefen Blick in die Augen eines vertrauenswürdigen Menschen ersetzen, der einem zurät, den inneren Schweinehund zu überwinden, und endlich mit dem Vorsorgesparen zu beginnen.

KI-Assistenten als Versicherungseinkäufer?

Auch Firmenkunden werden weiterhin den persönlichen Ansprechpartner benötigen, der ihnen nicht nur – digital assistiert – Produkt verkauft, sondern etwas von Risikomanagement versteht. Sie brauchen erfahrene Verhandler, die passende Deckungen einkaufen und Wordings mit den Versicherern abstimmen können. Das dürfte auf absehbarer Zeit kein Chatbot mit angeschlossenem Sprachmodell schaffen. Der kann zwar Frisörtermine vereinbaren, wie es Google 2018 präsentierte, aber mit Underwritern über deren Zeichnungswilligkeit verhandeln? Das taugt eher für einen Science Fiction-Film, wird jedoch noch viele Jahre keine Realität sein.

Einen Fehler sollten Vermittler aber nicht machen: Solche Entwicklungen nicht mehr beobachten, und sich selbst für das Maß aller Vertriebsdinge zu halten. Die Software entwickelt sich sehr schnell. Der Kostendruck der Versicherer steigt weiter, was den Blick unweigerlich auf die hohen Vertriebskosten richtet. Wer die Augen davor verschließt und sein Geschäftsmodell Vermittler nicht mehr weiterentwickelt, könnte das später bereuen.

Ausprobieren, Kundennutzen und Wirtschaftlichkeit prüfen

Der beste Rat ist, neue Entwicklungen auszuprobieren. Wenn neue Tools und Techniken im eigenen Vermittlerbetrieb eingesetzt werden sollen, gibt es zwei entscheidende Fragen. Erstens: Nutzt die neue Technik meinen Kunden? Wenn diese Frage mit „ja“ beantwortet werden kann, folgt zweitens: Kann ich diesen Mehrnutzen aus eigenen Bordmitteln erzeugen, oder wäre das teurer als ein Technikeinsatz?

Beispiel: Eine jährliche, automatische Optimierung von Kfz-Versicherungsverträgen im Bestand wäre ein Nutzen für die betroffenen Kunden. Diesen könnte man mit einigem Personalaufwand selbst erzeugen. Aber das wäre wahrscheinlich teurer als der Einsatz eines Softwaretools.