procontra hakt nach

BGH-Urteil zur Grundfähigkeitsversicherung: Was Vermittler wissen müssen

Ein aktuelles BGH-Urteil legt den Schluss nahe, dass die VVG-Regelungen zur Lebensversicherung nicht auch für Grundfähigkeitsversicherungen gelten. Über mögliche Auswirkungen wird derzeit kontrovers diskutiert.

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10:02 Uhr | 12. Februar | 2025
BGH-Gebäude in Kalrsruhe

Der Hof des BGH-Nordgebäudes: Ein Urteil des obersten Gerichtshofes zur Grundfähigkeitsversicherungen sorgt in der Branche gerade für kontroverse Diskussionen.

| Quelle: Stephan Baumann

Versicherungsmakler und BU-Experte Matthias Helberg hat auf seinem Blog unter dem Titel „Grundfähigkeitsversicherung ist keine Arbeitskraftabsicherung" als einer der ersten über das BGH-Urteil vom 11. Dezember 2024 (Az IV ZR 498/21) und seine möglichen Auswirkungen auf Grundfähigkeitsversicherungen (GFV) berichtet. Seitdem wird darüber intensiv diskutiert, wobei die meisten Produktgeber eine ausgesprochene Coolness an den Tag legen.

Laut dem Urteil knüpfen Grundfähigkeitsversicherungen und Schwere-Krankheiten-Versicherungen (Dread Disease) nicht unmittelbar an eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit an. Daher könnten für sie auch nicht die besonderen Vorschriften des VVG (Versicherungsvertragsgesetz), wie es bei der Berufsunfähigkeitsversicherung der Fall ist, gelten, so der BGH. Die wichtigste Auswirkung: Demnach könnten solche Verträge also auch ordentlich gekündigt werden.

Worum ging es in dem Verfahren?

In dem Verfahren, das dem Urteil zugrunde liegt, ging es um den Versicherer Axa, der aus wirtschaftlichen Gründen Tausende Unfall-Kombirentenverträge gekündigt hatte und daraufhin von der Verbraucherzentrale Hamburg verklagt worden war. Die Verbraucherschützer hatten damit argumentiert, dass die Unfall-Kombirente, die unter anderem Leistungen bei Eintritt einiger schwerer Krankheiten, dem Verlust von Grundfähigkeiten und Pflegebedürftigkeit beinhaltete, auch Komponenten einer Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) – also einer Lebensversicherung – besitze und somit nicht ordentlich, also ohne besonderen Grund, hätte gekündigt werden dürfen.

Der BGH kam in einem Berufungsverfahren nun zu einer anderen Auffassung als die Verbraucherzentrale. Danach waren die Axa-Kündigungen rechtens, da die betreffende „Mulitrente“ den Regelungen einer Sachversicherung unterliege und damit auch ein ordentliches Kündigungsrecht beinhalte. Dasselbe gelte auch für Grundfähigkeitsversicherungen und Schwere-Krankheiten-Versicherungen, die häufig als BU-Alternative beworben werden.

Wie die Versicherer auf das BGH-Urteil reagieren

Noch sind die Auswirkungen des Urteils nicht absehbar. Bei den Produktgebern jedenfalls ist von großer Aufregung bislang erstaunlich wenig zu spüren. So teilt etwa die Versicherungskammer Bayern auf procontra-Nachfrage mit, dass sich aus ihrer Sicht für die Bewerbung und Produktentwicklung von Grundfähigkeitsversicherungen nichts ändern werde.

„Die Grundfähigkeitsversicherung“, so Unternehmenssprecher Christian Thomas, „gerät nicht auf’s Abstellgleis, da dem BGH-Urteil keine Grundfähigkeitsversicherung, sondern eine Unfall-Kombirente als eine besondere Art der Unfallversicherung zugrunde liegt. Das wird in dem Urteil klar herausgestellt. Bei einer Grundfähigkeitsversicherung handelt es sich indes um eine Lebensversicherung im Sinne des VVG.“

Betroffene Kunden müssten daher auch nicht damit rechnen, dass ihre Verträge ordentlich gekündigt würden. Christian Thomas: „Die Geltung der Vorgaben zur Lebensversicherung (§§ 150 ff. VVG) – speziell auch der Ausschluss der ordentlichen Kündigung durch den Versicherer – wird vom BGH für die als Lebensversicherung angebotene Grundfähigkeitsversicherung nicht in Frage gestellt.“

Ähnlich auch die Einschätzung der DEVK Versicherungen: „Wir haben unsere Grundfähigkeitsversicherung bewusst von Anfang an als bedarfs- und bedürfnisorientierte Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung entwickelt, verstanden, beraten und verkauft“, erklärt Pressesprecherin Melanie Staudt gegenüber procontra.

„Das Produkt haben wir daher bewusst bei unseren beiden Lebensversicherungsunternehmen platziert und gerade nicht bei unseren Kompositversicherungen. Damit haben wir unsere Grundfähigkeitsversicherung auch seit jeher als Teil der Lebensversicherung verstanden. Demnach gelten selbstverständlich für diese die Vorschriften des Versicherungsvertragsgesetzes.“

Bei der Swiss Life, der Allianz und der Hannoverschen Lebensversicherung werden derzeit noch die Auswirkungen des BGH-Urteils geprüft. Auf procontra-Anfrage heißt es aber auch aus diesen drei Häusern, dass Kunden einer Grundfähigkeitsversicherung keine Angst vor einer einseitigen Kündigung ihrer Verträge zu haben bräuchten. „Wir haben kein einseitiges Kündigungsrecht von unserer Seite vereinbart und haben dies auch in Zukunft nicht vor“, betont etwa Swiss Life-Sprecher Gerrit Baur.

Sachversicherung oder Lebensversicherung?

Auch für BU-Profi Guido Lehberg steht fest, dass das BGH-Urteil „keinen Einfluss auf die Bewerbung oder Produktentwicklung der Grundfähigkeitsversicherung“ haben werde. „In dem Urteil des BGH geht es um eine ,Multirente‘ nach Art der Unfallversicherung, die über einen Sachversicherer angeboten wurde. Damit unterliegt diese auch den Regelungen einer Sachversicherung.“

Die Grundfähigkeitsversicherung dagegen sei keine Sachversicherung, sondern eine Versicherung nach Art der Lebensversicherung. Damit unterliegt sie exakt den gleichen Regelungen, wie auch die BU-Versicherung. Lehberg: „Das Urteil hat keinerlei Relevanz für die Grundfähigkeitsversicherung, wie sie von den Lebensversichern Alte Leipziger, Baloise, Bayerische, Barmenia Gothaer, HDI, Hannoversche, Nürnberger und vielen weiteren angeboten wird. Anders sieht es – wie schon immer – bei den sogenannten Multi-Renten von Sachversicherern wie Adcuri, Bayerische, Janitos und Co. aus.“

Was Juristen Vermittlern jetzt raten

Ist also die ganze Aufregung übertrieben? Nein, ganz so einfach ist es dann nun doch wieder nicht. Laut Björn Thorben M. Jöhnke, Fachanwalt für Versicherungsrecht, darf das BGH-Urteil tatsächlich nicht auf alle GFV-Produkte bezogen werden. Vielmehr komme es darauf an, wie ein Versicherer sein GFV-Produkt kalkuliert und beworben habe.

„Betrachtet ein Versicherer seine GFV als Produkt der Lebensversicherung, gibt das nicht nur den Versicherten Sicherheit, sondern auch den jeweiligen Versicherungsvermittlern“, betont Jöhnke gegenüber procontra. „Denn in diesem Fall können Kunden und Vermittler in der Tat von einer langfristigen Absicherung ausgehen, ohne Angst haben zu müssen, dass der eigene Versicherer einem den Versicherungsvertrag kündigt.“

Klarstellung der Versicherer erwartet – Makler müssen aufklären

Von den übrigen Versicherern dürfe nun erwartet werden, dass diese Klarstellungen zu ihren GFV-Produkten veröffentlichten, „so dass sich Versicherte und Versicherungsvermittler darauf verlassen können, dass die Produkte nach der Sparte der Lebensversicherung behandelt werden, wie es zum Beispiel bei der Berufsunfähigkeitsversicherung bereits gesetzlich der Fall ist.“

Für den Fall, dass ein Versicherer sich nicht dazu äußert und sein GFV-Produkt nicht nach der Lebensversicherung kalkuliert ist, sollten die Kunden durch die betreuenden Vermittler über dieses BGH-Urteil sowie die daraus entstandenen Unsicherheiten informiert werden. Jöhnke: „Gegebenenfalls sollte anderweitiger Versicherungsschutz angedient werden, sollten betroffene Kunden nicht mit dem GFV-Produkt bzw. dessen Eingruppierung als Schadensversicherung (demnach mit ordentlicher Kündigungsmöglichkeit) einverstanden sein.“

Auch Makler Helberg rät seinen Kollegen dazu, vom jeweiligen Produktanbieter eine rechtsverbindliche Erklärung einzufordern, dass man bestehende Verträge und aktuelle Angebote so behandele, als würde § 177 (1) VVG anwendbar sein. Außerdem solle die Grundfähigkeitsversicherung nicht in die Nähe einer Berufsunfähigkeitsversicherung gerückt oder eine Standard-GFV als Mittel zur Absicherung der Arbeitskraft bezeichnet werden.

Ist eine GFV eine gute BU-Alternative?