procontra: Das Zinsniveau belastet die Lebensversicherer nach wie vor. In welchen Bereichen schmerzt es die Unternehmen besonders?
Dr. Herbert Schneidemann: Drei Bereiche sind hier zu nennen. Zum einen die Zinszusatzreserve, für die 2020 aufgrund des erneuten Zinsrückgangs höhere Rückstellungen gebildet werden mussten. Momentan beträgt die Zinszusatzreserve etwa 87 Milliarden Euro und verschiedene Szenarien gehen davon aus, dass sie in Zukunft noch bis auf 130 Milliarden Euro ansteigen wird. Zum zweiten ist es bei den Solvenzquoten zu spüren, wo das erforderliche Kapital und die Anforderungen an das Eigenmittel weiter gestiegen sind. Schließlich macht sich das Zinsniveau natürlich auch in der Kapitalanlage bemerkbar, die deutlich komplexer geworden ist.
procontra: Die Zinszusatzreserve (ZZR) wurde in 2018 modifiziert. Wirkt die Korridormethode so entlastend wie gewünscht?
Schneidemann: Absolut. Die Modifizierung hat großen Finanzierungsdruck von den Anbietern genommen, in dem der zukünftige Aufbau geglättet wird und damit sachgerechter erfolgt. Der Zinsrückgang verstärkte zwar weiter den Druck, das belegen die Zuführungszahlen zur ZZR in 2020. Ohne die Korridormethode wäre die Belastung jedoch deutlich höher und würde mehr Anbieter vor Probleme stellen.
procontra: Inwiefern ist die Kapitalanlage komplexer geworden?
Schneidemann: Noch vor wenigen Jahren bestand die Kapitalanlage der Lebensversicherer größtenteils aus Staatsanleihen. Die Anbieter sind jedoch dazu gezwungen, ihr Anlageportfolio zu verbreitern, um heute noch Erträge zu erzielen. Über bloße Zinstitel funktioniert das nicht mehr. Im Anlagekorb spielen neue Assets wie Private Equity, Immobilien oder Infrastrukturprojekte eine größere Rolle, was auch eine breitere Expertise in diesen Bereichen erfordert.
procontra: Und Auswirkungen auf die Solvency-II-Quoten hat, die den Verbraucherschützern bei vielen Lebensversicherern zu niedrig sind?
Schneidemann: Wichtig ist, dass die Umstrukturierung der Kapitalanlagen auch ökonomisch sinnvoll erfolgt. Es wäre für die Lebensversicherer ein Leichtes, die Verbraucherschützer hinsichtlich der Solvency-II-Quoten zufriedenzustellen – wobei mir kein einziger Lebensversicherer bekannt ist, der unter Inanspruchnahme der Übergangsmaßnahmen eine SII-Quote von unter 100 Prozent aufweist.
Dennoch könnten die Anbieter ihre Quoten in die Höhe treiben, wenn sie in der Kapitalanlage auf Zinstitel und Staatsanleihen setzen, bei denen die Eigenkapitalanforderungen bei 0 Prozent liegen. Doch dann fielen Erträge zur Finanzierung der Zinszusatzreserve weg und es wären dieselben Kritiker, die die maue Ertragssituation für die Versicherten monieren würden. Genau dafür sind die Übergangsmaßnahmen geschaffen worden, um die Umstrukturierung der Kapitalanlagen und des Produktportfolios sinnvoll und sukzessive vornehmen zu können, ohne dabei die eigene Finanzkraft zu gefährden. Seite 1: Kapitalanlagen müssen sinnvoll umstrukturiert werdenSeite 2: Warum kein Anbieter pleitegeht und es weitere Run-Offs geben wird
procontra: Sie haben kürzlich an anderer Stelle prognostiziert, dass kein Lebensversicherer Konkurs geht – was macht sie da so sicher?
Schneidemann: Zum einen die aufgebauten Sicherungsmittel, wie die Zinszusatzreserve, und zum anderen die Kontrollmechanismen, beispielsweise durch die Finanzaufsicht, die vorhanden sind.
procontra: Ist davon auszugehen, dass weitere Unternehmen ihr Neugeschäft einstellen und in den Run-Off gehen?
Schneidemann: Es ist zumindest nicht auszuschließen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, in dieser Debatte, die ja zum Teil recht emotional geführt wird, zwischen einem internen und einen externen Run-Off zu unterscheiden. Bei einem internen Run-Off bleibt das Unternehmen über die Muttergesellschaft weiterhin im Neugeschäft aktiv und ist um eine gute Reputation gegenüber neuen und bestehenden Kunden bemüht; konkret in Form einer attraktiven laufenden Verzinsung und einer marktgerechten Überschussbeteiligung. Ich gehe davon aus, dass wir von internen Run-Offs in Zukunft noch mehr sehen werden.
procontra: Sind externe Run-Offs dann grundsätzlich negativ zu bewerten?
Schneidemann: Nein, absolut nicht. Die Situation ist nur eine andere, wenn ein externer Geldgeber einen Bestand aufkauft. Dann stehen Effizienzgewinne deutlich mehr im Vordergrund. Das Thema Reputationsschaden, beispielsweise aufgrund geringerer Überschussbeteiligungen, spielt eine ungeordnete Rolle. Es entstehen also potenzielle Interessenskonflikte, da man im Neugeschäft selbst eben nicht aktiv ist. Damit sollte man offen umgehen und transparent darlegen, über welche Maßnahmen die Versicherten profitieren. Dann lassen sich Ängste nehmen und die aufgeladene Debatte etwas versachlichen.
procontra: An welchen Indikatoren und Kennzahlen zeichnet sich ein nahender Run-Off eines Lebensversicherers ab?
Schneidemann: Völlig verbindlich kann man das von außen nicht sagen. Aber durch einen Run-Off fällt im Konzern in jeden Fall erstmal ein Kostenträger weg. In der Regel resultiert ein Run-Off aus tiefgreifenden Problemen und geht mit allgemein größeren strukturellen Maßnahmen im Konzern einher. Beispielsweise mit einem Kostensenkungsprogramm. Die Entwicklung der Kostenquoten und das Wachstum im Neugeschäft über einen längeren Zeitraum geben sicherlich eine Orientierung, welches Unternehmen einen Run-Off in Erwägung ziehen könnte. Wenn der Bestand stetig schrumpft, vergrößert sich automatisch der Kostendruck und es müssen strukturelle Maßnahmen ergriffen werden.
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