DIN-Normen

„Es braucht die Bereitschaft, gelernte Vorgehens- und Verhaltensweisen ändern zu wollen“

Die Verbreitung von DIN-Normen ist auch fünf Jahre nach dem Start noch stark ausbaufähig. procontra sprach mit Defino-Vorstand Klaus Möller über Hemmnisse der Berater, politische Ziele und Hebel für ein wachsendes Vertrauen in die Branche.

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16:05 Uhr | 28. Mai | 2024
Defino-Vorstand Klaus Möller

Defino-Vorstand Klaus Möller

| Quelle: Defino

Die DIN-Norm 77230 für Privathaushalte wurde bereits 2019 veröffentlicht. Was war die Intention, die Finanzanalyse zu normen?

Die Finanzbranche verkauft Versprechen in die Zukunft und das erfordert Vertrauen. Daran fehlt es der Branche jedoch seit Jahrzehnten und das macht sie immer wieder angreifbar. Es wäre daher sehr vertrauensstiftend, wenn Berater über eine einheitliche, neutrale DIN-Analyse der finanziellen Situation aufzeigen, welche die Bedarfsprioritäten der Kunden sind und wie sie ermittelt wurden. Ähnlich wie in der Medizin, wo die Diagnose eindeutig sein sollte, die anschließenden Therapien aber subjektiv gestaltbar bleiben, entkoppelt die DIN-Norm die Analyse von der Wahl der späteren Vorsorge- und Absicherungslösungen. Wir sind davon überzeugt, dass die Finanzbranche durch eigene Qualitäts- und Prozessstandards auch ein starkes Signal an die Politik sendet.

Inwiefern?

Bei mehr Selbstregulierung der Branche gibt es für die Politik weniger Handlungsbedarf. Das kann die Anzahl der schlechten Regeln aus der Politik, die die Produktivität einschränken, verringern weil man erkennt, dass die Branche sich selbst gute Regeln geben und einhalten kann. 

Auf einem der Schwerter aus Brüssel, denen man entkommen will, steht nach wie vor das Provisionsverbot. Wie kann eine Analyse dazu beitragen, dass die Forderungen nach einem Provisionsverbot leiser werden?

Weil sich vermeintliche Fehlanreize reduzieren. Diese entstehen ja nicht bei einer nachvollziehbaren Notwendigkeit wie beispielsweise bei einer privaten Rentenversicherung, wo Berater bei einem anderen Versicherer noch ein Promille mehr bekommen.

Wirklich problematisch sind doch die Situationen, wenn Analysen und Empfehlungen bewusst in jene Sparten gelenkt werden, in denen die höhere Courtage erzielt wird, obwohl es für deren Produkte eher eine nachgeordnete Notwendigkeit beim Kunden gibt.

Wenn man nun aber eine neutrale Analyse nach DIN durchführt, werden die Absicherungs- und Vorsorgethemen priorisiert. Da muss ein Berater, der nur auf provisionsträchtige Sparten aus ist, schon sehr genau erklären können, warum er einen weniger priorisierten Bereich einem höheren vorziehen will.

Der Branche fehlt es seit Jahrzehnten an Vertrauen und das macht sie immer wieder angreifbar.
Klaus Möller

Signale in Richtung Politik zu senden ist das eine, die tatsächliche Anwendung auf Beraterebene bewegt sich aber auch nach fünf Jahren noch im Marginalbereich. Wie wollen Sie das ändern?

Die erste Norm wurde 2019 veröffentlicht. In 2020 kam Corona. Da hatte die Finanzberatung ganz andere Aufgaben zu stemmen, insbesondere die Implementierung der Online-Beratung und andere Digitalisierungsmaßnahmen. Mit der Verbreitung seitdem sind wir dennoch nicht zufrieden. Momentan sind etwa 2.300 Berater – über alle Vertriebswege hinweg – zertifiziert. Zuzüglich der nicht zertifizierten, die trotzdem nach DIN analysieren, schätzen wir die Anzahl auf aktuell 3.000. Ändern können wir das am besten durch die Verbreitung der Erfolgsgeschichten der Normumsetzer. Die gibt es in großer Zahl. Der ganzheitliche Ansatz und das gestärkte Kundenvertrauen führen zu größerer Offenheit, Cross-Selling-Möglichkeiten, höherer Vertragsdichte und stabilerem Geschäft.

Was hemmt Vermittler nach DIN zu analysieren?

Zunächst ist die Umstellung eines Vertriebs auf Normumsetzung ein langfristiger Prozess, der nicht mal eben von einem auf den anderen Tag zu vollziehen ist. Da muss Software angebunden, etablierte Prozesse angepasst und neue Schnittstellen geschaffen werden. Das braucht Zeit und auch das Bewusstsein und die Bereitschaft der Berater, über die Jahre gelernte Vorgehens- und Verhaltensweisen ändern zu wollen.

Bislang ist der Kenntnisstand unter den Verbrauchern über die Möglichkeit einer DIN-Analyse noch gering. Wenn sich das eines Tages ändert und die Verbraucher vermehrt eine Analyse nach DIN einfordern, dürfte das den Finanzvertrieb viel breiter als bisher veranlassen, diesem Kundenwunsch nachzukommen.

Fünf Jahre sind auch kein kurzer Zeitraum und die Zeit ist knapp, um Brüssel zu signalisieren, dass es nicht nur eine Idee, sondern auch eine gelebte Praxis in der Breite gibt. Wie wollen Sie es schaffen, angesichts der Vielzahl von Herausforderungen, denen sich Banken, Versicherer und Vertriebe gegenüberstehen, dort entsprechend priorisiert zu werden?

Wir beobachten, dass die Wachstumskurve eher exponentiell als gerade verläuft. Deutliches Indiz ist die zunehmende Zahl von Unternehmen, die uns im Defino-Kuratorium bei unserer Arbeit unterstützen und sich damit auch öffentlich kommitten. Uns ist bewusst, dass dieser Prozess tiefgreifend und langwierig ist und dass wir mit einer ganzen Reihe von weiteren Herausforderungen konkurrieren, die die Unternehmen umsetzen müssen. Es ist wichtig deutlich zu machen und nachzuweisen, dass die Normen – anders als viele der anderen Herausforderungen – das Geschäft und die Produktivität der Unternehmen nicht bremsen, sondern fördern. Das ist der Sinn von Normen.

Die Umstellung eines Vertriebs auf Normumsetzung ist ein langfristiger Prozess.
Klaus Möller

In einer procontra-Umfrage nannten Makler die (hohen) Zertifizierungskosten, den Mehraufwand und einen zu starken Eingriff in die unabhängige Beratung als Gründe, eine DIN-Analyse nicht zu nutzen. Wie sehen Sie das?

Es bedeutet Aufwand, sich ein umfassendes Bild vom Kunden zu machen. Die Kritik daran kommt allerdings überwiegend von denjenigen, die die Norm nicht nutzen. Diejenigen, die sie konsequent einsetzen, bestätigen, dass der Nutzen – nach einer gewissen Zeit – den Aufwand deutlich überwiegt.

Bei der DIN 77230 haben wir bereits für eine leichtere Handhabung gesorgt und eine Modularisierung ermöglicht. Berater und Kunden können sich dadurch seit Herbst 2023 auch nur mit einzelnen von neun Bedarfsfeldern befassen. Voraussetzung dafür ist, dass die Software trotzdem alle Themengebiete auflistet und dem Kunden farblich kennzeichnet, welche diesmal relevant sein sollen. So sieht er immer, dass es noch weitere Bereiche gibt als nur die des aktuellen Beratungsanlasses, was dem Berater wiederum die Möglichkeit eines Folgetermins eröffnet.

Was sagen Sie zum Grund der Zertifizierungskosten?

Niemand muss sich zertifizieren lassen, um eine Finanzanalyse nach DIN anzuwenden. Ein Zertifikat stärkt jedoch die Glaubwürdigkeit und belegt, dass die Berufung auf DIN nicht nur ein Marketinginstrument ist, sondern dass ein unabhängiger Dritter sie bestätigt. Zudem muss man ehrlich feststellen, dass die Zertifizierungskosten (Anm. d. Redaktion: einmalig 380€ zzgl. 80€ für die zweijährige Überprüfung) noch viel niedriger sind als in anderen Branchen.

Wie steht es um den Eingriff in die unabhängige Beratung?

Dazu fällt mir nur ein: Was würden die Makler, die das vortragen sagen, wenn Medizinlabore uns regelmäßig unterschiedliche, nicht vergleichbare Blutbilder liefern und sich dabei auf ihren Unabhängigkeitsanspruch berufen würden.

Es geht bei der DIN-Norm um eine Sachstandsdiagnose, also eine Darstellung der Realität. Ärzte, Bauingenieure oder Piloten fühlen sich auch nicht in der beruflichen Unabhängigkeit eingeschränkt, weil sie sich an DIN-Normen halten. Im Gegenteil, sie profitieren davon.

Dieser Vorbehalt manifestiert aus meiner Sicht, dass die Kritiker ihre Selbstverwirklichung vor die Analyse der unverfälschten Individualität ihrer Kunden stellen. Zudem muss ich nochmal betonen, dass es bei der DIN-Norm nur um den Baustein der Analyse geht. Die anschließende Beratung sollte darauf fußen, bleibt aber auf jeden Fall subjektiv gestaltbar.

Niemand muss sich zertifizieren lassen, um eine Finanzanalyse nach DIN anzuwenden.
Klaus Möller

Ein Einschnitt ins Berufsbild würde aber dann erfolgen, wenn die DIN-Norm eine Voraussetzung dafür würde, um weiterhin nach Provisionen beraten zu dürfen. Also zu einem qualitativen Vergütungsmerkmal würde.

Das ist nicht unser Thema. An der DIN-Norm 77230 haben Privat- und Volksbanken, Versicherer, Vermittlerverbände, der Arbeitskreis Beratungsprozesse und weitere Sachverständige von Anfang bis Ende mitgewirkt, die alle im Konsens für die jetzige Umsetzung gestimmt haben. Es ist also eine Gesamtinitiative, die die Interessen einer breiten Beraterschaft berücksichtigt, die mit verschiedenen Vergütungssystemen arbeitet. 

Sie wollen Vertrauen in die Branche stiften, indem die Analyse standardisiert wird. Ist für den Gesamterfolg nicht aber insbesondere die anschließende Therapie – sprich die Produktebene entscheidend? Dort entlädt sich ja die Kritik der Verbraucherschützer größtenteils.

Die Verbraucherschützer bewegen sich mit ihrer Kritik fast ausschließlich auf Produktebene, da gebe ich Ihnen Recht. Mit der DIN-Norm 77230 greifen wir bewusst nur den ersten Baustein des gesamten Beratungsprozesses auf, damit alle anderen Prozesse davon profitieren können. Sicherlich verstärkt es die Vertrauensbildung, wenn sich die anschließende Beratung weiter professionalisiert und auch die Produktgeber ihre Hausaufgaben machen, damit die Leistungen der Produkte noch besser mit den tatsächlichen Bedürfnissen und Vorsorgezielen der Kunden matchen.