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Mehr Steuern: Wird so die soziale Pflegeversicherung zukunftsfest?

Die Finanzierungslücke in der Pflegeversicherung klafft weiter: Mittlerweile liegt das Defizit bei 4,5 Milliarden Euro. Wird das System durch mehr Steuergelder zukunftsfest? Darüber diskutieren Nicole Westig, pflegepolitische Sprecherin der FDP, und Florian Schönberg vom Sozialverband Deutschland für procontra.

10:05 Uhr | 11. Mai | 2023
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In der Pflegeversicherung klafft eine große Finanzierungslücke: Kann diese einfach mit mehr Steuergeld geschlossen werden? Darüber gehen die Meinungen auseinander.

| Quelle: procontra

Die soziale Pflegeversicherung steckt bekanntermaßen tief in den roten Zahlen und das Defizit wächst weiter. Das rief vor einigen Wochen die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen sowie die großen Sozialverbände auf den Plan: In einem Brandbrief an Bundeskanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner forderten sie, die Finanzierungslücke rasch durch Steuermittel in Milliardenhöhe auszugleichen. Wird das marode System damit auf ein zukunftssicheres Fundament gestellt?

Nicole Westig (pflegepolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion): Contra

Nicole Westig

Nicole Westig ist pflegepolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion.

| Quelle: Laurence Chaperon

Seit ihrer Einführung 1995 hat die soziale Pflegeversicherung zu einer enormen Entlastung Pflegebedürftiger und deren Angehörigen geführt. Doch heute steht die soziale Pflegeversicherung unter enormem finanziellen Druck. So richtig und sinnvoll die Leistungsausweitungen waren: Sie sind nicht nachhaltig gegenfinanziert worden, so dass immer wieder und in immer kürzeren Abständen die Zahlungsunfähigkeit der sozialen Pflegeversicherung droht.

Die Freien Demokraten haben seinerzeit davor gewarnt, angesichts der damals schon absehbaren demografischen Entwicklung erneut ein soziales Sicherungssystem nach dem Umlageverfahren einzuführen. Es war klar, dass nicht immer weniger junge Beitragszahlende für immer mehr Ältere und Pflegebedürftige aufkommen können. Deshalb wollte die FDP eine Pflegeversicherung nach dem Kapitaldeckungsprinzip einführen, konnte sich damit jedoch nicht durchsetzen. Allerdings war die Pflegeversicherung stets als Teilleistungsprinzip konzipiert, das besagt, dass es zusätzlicher Pflegevorsorge bedarf. Das galt damals und heute umso mehr.

Umsteuern zu mehr kapitalgedeckten Elementen

Es kann deshalb keine Lösung sein, ein weiteres soziales Sicherungssystem allein mit Steuerzuschüssen aufrechtzuerhalten. Denn das ist weder nachhaltig noch generationengerecht. Deshalb bedarf es eines Umsteuerns weg von der alleinigen Umlage hin zu mehr kapitalgedeckten Elementen.

Eine Expertengruppe um den Wirtschaftswissenschaftler Professor Jürgen Wasem hat vor kurzem Vorschläge für eine generationengerechte Pflegefinanzierung gemacht. Gewiss wird sich nicht jeder mit einer verpflichtenden Zusatzvorsorge anfreunden können, doch die Vorschläge sind es wert, zumindest einmal politisch diskutiert zu werden, denn sie können dazu beitragen, die Finanzierung der Pflege endlich auf sicherere Füße zu stellen.

Ein weiterer dauerhafter Griff in unseren schuldenbelasteten Haushalt kann jedenfalls ebenso wenig eine Lösung sein wie weitere Beitragserhöhungen. Denn wir haben eine Verantwortung gegenüber jungen und nachfolgenden Generationen – das gilt für das Klima wie für unsere Finanzen.

Florian Schönberg (Referent für Gesundheit und Pflege beim SoVD): Pro

Florian Schönberg

Florian Schönberg ist Referent für Gesundheit und Pflege beim Sozialverband SoVD.

| Quelle: SoVD

Seit fast 30 Jahren dient die soziale Pflegeversicherung der Absicherung der pflegerischen Versorgung für pflegebedürftige Menschen und ihrer Angehörigen in Deutschland. Angesichts des demografischen Wandels gewinnt die jüngste Säule der Sozialversicherung immer weiter an Bedeutung. Zugleich steht sie unter enormen finanziellen Druck: Für 2023 wird ein Defizit in Höhe von drei Milliarden Euro erwartet. Zur Stabilisierung der Finanzsituation der sozialen Pflegeversicherung sieht ein aktueller Gesetzentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege (PUEG) weitere Beitragssatzsteigerungen vor.

Seit ihrer Gründung wurde die soziale Pflegeversicherung – im Unterschied zur Renten- und Arbeitslosenversicherung – ausschließlich durch Beitragszahlungen im Umlageverfahren finanziert. Erst im Jahr 2020 wurde ein Bundeszuschuss im Kontext der Corona-Pandemie in Höhe von 1,8 Milliarden Euro gewährt, bevor dieser seit dem 1. Januar 2022 dauerhaft in Höhe von einer Milliarde Euro pro Jahr eingeführt wurde. Bundeszuschüsse aus Steuermitteln werden pauschal für sogenannte versicherungsfremde Leistungen gezahlt.

5,5 Milliarden Euro pandemiebedingte Kosten

Das sind Leistungen der Sozialversicherung, die nicht zu deren originären Aufgaben gehören, sondern familienpolitisch motiviert oder von gesamtgesellschaftlichem Interesse sind. Darunter fallen im Falle der Pflegeversicherung beispielsweise Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige, Lohnersatzleistungen wie das Pflegeunterstützungsgeld sowie die pandemiebedingten Mehrbelastungen der Pflegeversicherung. Sie sind aus allgemeinen Steuermitteln zu finanzieren. Entsprechend dieser Abgrenzung geht es bei der Forderung nach Bundeszuschüssen letztlich um die systemgerechte Refinanzierung der Kosten versicherungsfremder Leistungen, für die bislang die Versicherten mit ihren Beitragsgeldern (bis 2020 ausschließlich) aufkommen. Allein die pandemiebedingten Kosten der sozialen Pflegeversicherung, die bis heute noch nicht erstattet wurden, belaufen sich auf rund 5,5 Milliarden Euro.

Im Koalitionsvertrag haben die Koalitionspartner die Finanzierung eben jener Rentenversicherungsbeiträge für Pflegepersonen und coronabedingten Kosten durch den Bund längst angekündigt. Die Umsetzung brächte eine erste spürbare Kostenentlastung. Anstatt ausschließlich die Beitragszahlenden zu belasten, muss der Bund seiner Finanzierungsverantwortung endlich nachkommen und seinen Beitrag zur Stabilisierung der Finanzsituation der sozialen Pflegeversicherung leisten.

Geht es nach den gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen könnten Steuergelder in Milliardenhöhe das Defizit in der sozialen Pflegeversicherung rasch ausgleichen.