KI in der Wohngebäudeversicherung: „Wir sprechen hier von einem ganz, ganz großen Schritt“
procontra: Die Wohngebäudeversicherung hat bekanntlich einige größere Wehwehchen: Inflationsbedingt kräftige Beitragssteigerungen, viele alte Wasserleitungen und lange Bearbeitungszeiten im Kundenservice. Wie kann die KI dies verbessern?
Uwe Schumacher: In der gesamten Branche ist der Rückstand in der Schadenbearbeitung derzeit eine der großen Herausforderungen. Deshalb wird an KI-Lösungen gearbeitet, um die Prozesse zu beschleunigen. Wenn wir uns in diesem Bereich verbessern können, kann das in zweifacher Hinsicht viel bewirken. Denn nicht nur die Kunden wären zufriedener mit ihrem Versicherer, auch der Bearbeitungsstau würde sich lösen und Kapazitäten freisetzen.
procontra: Nochmal zu den Wasserleitungen. Was kann die KI zur Schadenprävention beitragen?
Schumacher: Da ist sicherlich die Leckortung ein Ansatzpunkt. Je früher man zum Beispiel erkennt, dass die Verbindung zwischen zwei Rohren undicht ist, umso mehr lässt sich das Schadenausmaß eindämmen. Denn meistens zerplatzt ein Wasserrohr nicht, sondern wird an den Verbindungsstellen undicht. So kann das Wasser oft über längere Zeit unbemerkt ins Mauerwerk eindringen und dort große Schäden verursachen. Um das zu vermeiden, gibt es bereits verschiedene Systeme, die zum Beispiel die Wasserrohre abhören. Das reduziert den Aufwand immens im Vergleich zur Kamerabefahrung. In diesem Bereich planen wir derzeit ein Pilotprojekt.
procontra: In welchem Bereich steckt das größte Potenzial für KI?
Schumacher: Das sind auf jeden Fall erst einmal die Prozesse im Versicherungsbetrieb. Natürlich steckt in allen Bereichen Potenzial, aber hier lässt es sich aus aktueller Sicht am schnellsten und einfachsten umsetzen. Wenn es dort dann etabliert ist, werden die anderen Bereiche über kurz oder lang nachziehen.
Wir sind überzeugt, dass dieses Vorgehen signifikante Verbesserungen bei der Bearbeitungsdauer und Kundenzufriedenheit bringt.Uwe Schumacher
procontra: Sprechen wir hier von kleineren Verbesserungen? Oder wird die KI disruptiv wirken und in Zukunft beispielsweise so schnell arbeiten, dass alle Wohngebäudekunden den Reaktionszeiten ihrer Versicherer fünf Sterne geben?
Schumacher: Aus meiner Sicht sprechen wir hier definitiv von Disruption, also einem ganz, ganz großen Schritt. Als ITler finde ich es wirklich sehr beeindruckend, beinahe schon beängstigend, mit welcher Geschwindigkeit sich die Künstliche Intelligenz aktuell auf verschiedene Branchen in konkrete Use Cases auffächert.
procontra: Mit Ihrem neuen KI-Mitarbeiter ‚Kim‘ wollen Sie Schadenfälle in nur 15 Minuten vollständig bearbeiten. Wie lange müssen die Kunden denn aktuell bei Domcura warten?
Schumacher: Das ist unterschiedlich. Aber wenn Sie sich einmal die Bearbeitung eines Schadens ansehen, dann wird schnell klar, dass ‚Kim‘ diesen Prozess deutlich beschleunigt. Denn üblicherweise meldet uns der Kunde einen Schaden und ein Sachbearbeiter nimmt sich dieser Sache womöglich eine Stunde später an. Er stellt dann fest, dass zum Beispiel noch ein Foto fehlt. Dieses fordert er per E-Mail beim Kunden an. Dieser ist aber vielleicht dann schon bei der Arbeit und kann sich nicht sofort darum kümmern oder er sichtet sein E-Mail-Postfach erst am nächsten Tag. Bis er uns das Foto schickt und ein Sachbearbeiter sich wieder mit diesem Schadenfall beschäftigt, können mehrere Tage vergehen. ‚Kim‘ hingegen kann die eingehende Schadenmeldung noch in der Minute des Eingangs bearbeiten und stellt fest, dass ein Foto fehlt. Dieses fordert ‚Kim‘ nur Minuten nach der Meldung beim Kunden an. Da hat der Kunde wahrscheinlich immer noch sein Smartphone in der Hand oder sitzt vor dem heimischen Rechner und kann sich sofort um das Foto kümmern, auch weil er noch voll im Thema ist. Sie sehen also: Aus ganz plausiblen Gründen ist es eher ‚Kim‘ vorbehalten, einen Schaden innerhalb von gerade einmal 15 Minuten zu bearbeiten. Wir sind überzeugt, dass dieses Vorgehen signifikante Verbesserungen bei der Bearbeitungsdauer und Kundenzufriedenheit bringt.
procontra: Seit wann ist ‚Kim‘ bei Ihnen schon im Einsatz und wie viele Schäden hat er schon bearbeitetß
Schumacher: Im zurückliegenden Frühjahr haben wir mit einer Testphase begonnen, in der alle Schäden, die ‚Kim‘ bearbeitet hat, parallel auch von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bearbeitet wurden. Vor allem um zu schauen, an welchen Stellen des Bearbeitungsprozesses durch unseren KI-Mitarbeiter womöglich noch Optimierungsbedarf besteht. Denn er lernt täglich dazu. Inzwischen hat ‚Kim‘ einige tausend Schäden erfolgreich reguliert. Das waren alles echte Schadenfälle von echten Kunden.
procontra: Hat ‚Kim‘ diese dann auch komplett allein bearbeitet?
Schumacher: Bei der Auszahlung des Schadenbetrags waren wir zunächst noch vorsichtig und haben das durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchführen lassen. Aber inzwischen kann ‚Kim‘ Schäden komplett eigenständig bearbeiten.
procontra: Was können Ihre menschlichen Mitarbeiter denn in der nun gewonnen Zeit machen?
Schumacher: Aufgrund der genannten Bearbeitungsrückstände haben unsere Kolleginnen und Kollegen viele Überstunden aufgebaut. Denn in der Vergangenheit hatten wir teilweise überdurchschnittliche viele unbesetzte Stellen im Unternehmen. Dank ‚Kim‘ können wir die Herausforderung ‚Fachkräftemangel‘ nun besser bewältigen. Unser Ziel ist es, dass sich durch die Unterstützung der KI unsere menschlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die großen, komplexen Schäden konzentrieren können. Zumal in unserer Branche ein Drittel der Angestellten in den nächsten Jahren in Rente geht. Das aufzufangen wird eine Riesenaufgabe, auch für die großen Versicherer.
Ich bin davon überzeugt, dass das Zusammenspiel aus persönlicher Beratung und unterstützender KI die größten Mehrwerte für unsere Kundinnen und Kunden schafft.Uwe Schumacher
procontra: Sie bieten ja an, ‚Kim‘ an andere Unternehmen zu verkaufen. Wie viel soll’s denn kosten?
Schumacher: ‚Kim‘ ist ja noch ganz frisch, insofern gab es bisher auch noch keine Verhandlungsgespräche. Aber zumindest erhalten wir bereits erste Anfragen. Auch weil der Einsatz eines voll funktionierenden KI-Mitarbeiters im Hinblick auf Fachkräftemangel und Bearbeitungsrückstände für viele Unternehmen der Versicherungswirtschaft interessant ist. Es kommt darauf an, mit wem sich eine Zusammenarbeit ergibt und in welchem Ausmaß.
procontra: In welchem Ausmaß wird KI den persönlichen Vertrieb ersetzen?
Schumacher: Ich habe eine intensive Vergangenheit als Direktversicherer, habe 17 Jahre lang in dem Segment gearbeitet. Als ich angefangen habe, bin ich wie viele andere davon ausgegangen, dass in den nächsten zwei bis drei Jahren locker ein Drittel der Sachversicherungsprodukte über den Direktvertrieb abgeschlossen werden. Tatsächlich ist es aber ganz anders gekommen und ich glaube, mit der KI wird es ähnlich sein: Obwohl KI die Prozesse effizienter gestalten kann, kann sie den wertvollen menschlichen Kontakt nicht ersetzen. Ich bin davon überzeugt, dass das Zusammenspiel aus persönlicher Beratung und unterstützender KI die größten Mehrwerte für unsere Kundinnen und Kunden schafft.