Experten warnen vor "Schock" bei gesetzlicher Rente

Die Gesetzliche Rente wankt und bedarf dringend tiefgehender Reformen, mahnt der wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Experten machen sich unter anderem für längere Arbeitszeiten stark. Doch der Reformbedarf geht darüber hinaus.

Author_image
14:06 Uhr | 07. Juni | 2021
Bundeswirtschaftsministerium Bild: Adobe Stock/Tobias Arhelger

Der wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums macht sich für deutliche Reformen bei der Gesetzlichen Rente stark. Bild: Adobe Stock/Tobias Arhelger

Es sind drastische Worte, die die Renten-Experten wählten: Die rentenpolitischen Maßnahmen der vergangenen Jahre haben in eine Sackgasse geführt, für die Zukunft werden schockartig steigende Finanzierungsprobleme prognostiziert. Kurzum: Die Lages der Gesetzlichen Rentenversicherung ist aus Sicht des wissenschaftliches Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums ernst. In einem am Montag präsentierten Gutachten übten die Wirtschaftsexperten, unter ihnen Dr. Axel Börsch-Supan, der ehemalige ifo-Präsident Hans-Werner Sinn und DIW-Präsident Marcel Fratzscher, schwere Kritik an den politischen Weichenstellungen der Vergangenheit und plädierten für weitgreifende Reformen.  

Die Probleme

Die von der ehemaligen Bundessozialministerin Andrea Nahles 2018 eingeführte „doppelte Haltelinie“, mit der sowohl das Renten- sowie das Beitragsniveau stabilisiert werden sollen, stößt bei den Experten auf deutliche Kritik. „Das hat die illusionäre Erwartung geweckt, dass sich höhere Beiträge und ein niedrigeres Rentenniveau dauerhaft vermeiden lassen“, heißt es in einer parallel zum Gutachten veröffentlichten Pressemitteilung.  

Hinzu kommen weitere Belastungen des Rentensystems. Genannt werden hier:      

  • Die Mütterrente 

  • Einführung der Grundrente  

  • Die abschlagsfreie Rente mit 63  

Zusammengenommen würden diese Maßnahmen die Bundesregierung vor ein Dilemma stellen, das sich allerdings erst 2025 – nach Beendigung der doppelten Haltelinie – entfalten würde. Dann tritt der sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor wieder in Kraft.  

Zur Erinnerung: Der Nachhaltigkeitsfaktor wurde 2005 von der damaligen rot-grünen Schröder-Regierung eingeführt. Er bezieht das Verhältnis von Beitragszahler und Beitragsempfängern, also Arbeitnehmern und Rentnern bei der Berechnung der Rente mit ein. Steigt die Zahl der Rentner schneller als die der Beitragszahler, wirkt sich dies bei der Rentenanpassung dämpfend aus.  

Durch die doppelte Haltelinie sei dieser zwischen den Generationen regulierende Mechanismus jedoch faktisch ausgesetzt, kritisieren die Wissenschaftler. Das habe Folgen: Sollte der Nachhaltigkeitsfaktor 2026 wieder greifen, drohten höhere Beiträge bei einem zugleich sinkenden Rentenniveau – das Vertrauen der Menschen in die gesetzliche Rente würde folglich spürbar leiden.  

Die Alternative: Die Bundesregierung hält an den Haltelinien fest, müsste die sich auftuende finanzielle Lücke dann aber verstärkt mit Steuergeldern füllen. Das Ausmaß wäre allerdings gewaltig: Während heute bereits 26 Prozent des Bundeshaushalts in die Rentenversicherung fließen, droht der Anteil bis 2040 auf 44, bis 2060 gar auf über 55 Prozent zu steigen. Mehr als jeder zweite Steuer-Euro würde dann zur Stabilisierung der Rente herangezogen – für Bildung, Infrastruktur, Gesundheitssystems etc. wäre folglich entsprechend weniger Geld vorhanden. „Das würde den Bundeshaushalt sprengen und wäre auch mit massiven Steuererhöhungen nicht finanzierbar“ sagt der Beiratsvorsitzende Prof. Klaus M. Schmidt.

Seite 1: Steuerzuschüsse drohen zu explodieren
Seite 2: Steigendes Renteneintrittsalter und Anpassungen bei Rentenformel

Die mögliche Lösung

Der wissenschaftliche Beirat macht sich insgesamt für zwei Maßnahmen stark. Da wäre zum einen eine Anpassung beim Renteneintrittsalter. „Das geschieht am besten durch eine dynamische Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung, sodass das Verhältnis der in Arbeit und in Rente verbrachten Lebenszeit konstant bleibt“, sagt Börsch-Supan. Im Gespräch ist hier die sogenannte 2:1-Regel. Steigt die Lebenserwartung um ein Jahr, müssen Arbeitnehmer acht Monate länger arbeiten.  

Allein zwischen 2030 und 2050 dürfte, laut Basisszenario der Experten, die Lebenserwartung bei Männern und Frauen um weitere 2,4 Jahre ansteigen. Unter Berücksichtigung der 2:1-Regel läge das Renteneintrittsalter für eine abschlagsfreie Rente im Jahr 2040 bei 67,8, 2050 dann bei 68,6 Jahren.   Gesundheitlich betroffene Menschen sollen von dieser Regelung ausgenommen sein. Arbeitnehmer, die hingegen trotz Überschreiten des Regelalters weiter arbeiten möchten, sollen dies auch tun können, fordern die Experten weitere Flexibilisierungen.  

Debatte muss bald geführt werden

Darüber hinaus seien als zweite Maßnahme zwei Wege denkbar. Der eine sehe vor, Bestandsrenten weniger stark zu erhöhen als neue Renten. Auf diese Weise könnte die Kaufkraft der Rente bei einem Beitragssatz von unter 23 Prozent stabilisiert werden. Nachteil: Menschen, die sehr alt werden, würden im Verhältnis zu den Löhnen nur sehr niedrige Renten erhalten.  

Der zweite Wege sehe vor, dass eine Haltelinie weiter bestehen bleibe – allerdings nur für einen Teil der erworbenen Entgeltpunkte. Die Rente darüber hinaus wäre wieder Nachhaltigkeits- aber auch Nachholfaktor unterworfen. Auf diese Weise würden geringere Renten gegenüber geringeren Renten aufgewertet, die Gefahr von Altersarmut zudem verringert, argumentieren die Experten.  

Eine Empfehlung, welches Modell er am zielgerichtesten halte, wollte der Beirat nicht abgegeben – stattdessen forderte er die Politik auf, einen Diskussionsprozess zu starten. Und das möglichst bald – nur dann könne der in wenigen Jahren anstehende Schock abgefedert werden.

Seite 1: Steuerzuschüsse drohen zu explodieren
Seite 2: Steigendes Renteneintrittsalter und Anpassungen bei Rentenformel