pro: „Eine Bürgerversicherung würde Ungerechtigkeiten beseitigen"
Prof. Dr. Heinz Rothgang, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Bremen
Deutschland ist das einzige OECD-Land mit einer substitutiven Krankenversicherung. Nur bei uns ist es möglich, eine private Krankenvollversicherung (PKV) abzuschließen und dadurch das Basissystem, die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), zu verlassen. Allerdings ist dies nur Selbständigen, Freiberuflern, Beamten und den einkommensstarken abhängig Beschäftigten möglich.
Dies führt zu einem gravierenden Gerechtigkeitsproblem, da sich „gute Risiken“ aus der Solidarität mit „schlechten Risiken“ verabschieden. Die „Einkommenssolidarität“, nach der Besserverdienende höhere Beiträge als Geringverdienende zahlen, wird dadurch verletzt, dass sich Privatversicherte, die im Durchschnitt über ein doppelt so hohes Einkommen wie Sozialversicherte verfügen, dieser Einkommenssolidarität entziehen.
In der PKV finden sich vor allem gesunde Versicherte wieder
PKV-Versicherte weisen zudem eine günstigere Alters-, Geschlechter- und Morbiditätsstruktur auf als Sozialversicherte. Besonders gut ist das in der Pflegeversicherung zu erkennen, da hier Leistungsrecht und Begutachtungskriterien vollständig zwischen den beiden Systemen übereinstimmen. Dennoch liegen die Ausgaben für eine sozialversicherte Person doppelt so hoch wie für eine privatversicherte – unter Berücksichtigung der Beihilfezahlungen für beihilfeberechtigte Privatversicherte. Die zugrunde liegende unterschiedliche Risikostruktur resultiert nicht zuletzt daraus, dass die Gesundheitsprüfung vor Abschluss einer privaten Krankenversicherung dafür sorgt, dass vor allem gesunde Versicherte in die PKV eintreten.
Das sogenannte „duale System“ von GKV und PKV begünstigt zudem die „strukturelle Einnahmeschwäche“ der Sozialversicherung: Die Gesamtsumme der beitragspflichtigen Einnahmen zur GKV wächst wesentlich langsamer als das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Wäre die Gesamtsumme der beitragspflichtigen Einnahmen von 2000 bis 2023 wie das BIP gewachsen, hätte der GKV-Beitragssatz 2023 nur 12,5 Prozent betragen und damit niedriger gelegen als 2000, als er 13,6 Prozent betrug.
Höhere Einkommen bleiben beitragsfrei
Dass das Wachstum der Bemessungsgrundlage zur GKV niedriger ist als das BIP-Wachstum, hat drei Gründe: Erstens sind Einkommensstarke nicht in der Sozialversicherung. Zweitens werden nur Arbeitseinkommen und aus Arbeitseinkommen abgeleitete Sozialeinkommen wie Renten und Arbeitslosengeld verbeitragt – nicht aber Einkommen aus Kapitalerträgen oder aus Vermietung und Verpachtung. Drittens werden die Einkommen nur bis zur Beitragsbemessungsgrundlage herangezogen, die derzeit bei monatlich 5.512,50 Euro liegt. Höhere Einkommen bleiben dagegen beitragsfrei. Damit werden sowohl die horizontale Gerechtigkeit, nach der Personen mit gleichem Einkommen (unabhängig von der Einkommensart) gleich belastet werden sollen, als auch die vertikale Gerechtigkeit, die fordert, dass Personen mit höherem Einkommen höhere Abgaben leisten müssen, verletzt.
Eine Bürgerversicherung sieht idealerweise die Versicherung aller Bürgerinnen und Bürger unter gleichen Bedingungen in einem einheitlichen Versicherungssystem vor, wobei alle Einkommensarten beitragspflichtig sind und die Beitragsbemessungsgrenze zumindest deutlich angehoben wird. Eine solche Bürgerversicherung würde die angesprochenen Ungerechtigkeiten beseitigen und die Finanzierung nachhaltig stabilisieren und ist daher wünschenswert.
contra: „Mit Gesundheit spielt man nicht"
Peter Abend, Sprecher der Betriebsratsinitiative „Bürgerversicherung? Nein danke!" und Betriebsratsvorsitzender der Gothaer Krankenversicherung AG
Seit Jahrzenten favorisieren einige Parteien das Gesundheitssystem radikal zu verändern. Die „Zauberformel“ lautet, die gesamte Bevölkerung in einer Einheitskasse – kurz Bürgerversicherung genannt – zu versichern. Dadurch würden die steigenden Gesundheitsausgaben beherrschbar, die Beiträge abgesenkt und es gehe allen besser.
Dagegen sprechen jedoch folgende Fakten: Das deutsche Gesundheitssystem steht auf zwei festen Säulen (gesetzliche Krankenkassen und private Krankenversicherung). Etwa 90 Prozent der Bevölkerung ist gesetzlich und 10 Prozent privat versichert. Gut 20 Prozent der jährlich anfallenden Gesundheitsausgaben werden von den privaten Krankenversicherungsunternehmen finanziert. Darin sind 12,3 Milliarden Euro enthalten, die als Mehreinnahmen der Ärzteschaft zufließen. Sie werden beispielsweise in Krankenhäusern, Arztpraxen und dem dort arbeitenden Personal investiert. Soweit die private Krankheitskostenvollversicherung als eine tragende Säule des Systems beseitigt wird, entfallen die Mehreinnahmen.
Das kann auch nicht durch vermehrte Beitragseinnahmen kompensiert werden. Denn schon aus verfassungsrechtlichen Gründen kann der Gesetzgeber die privat krankenversicherten Personen nicht einfach in die Einheitskasse überführen. Dem erhofften „Beitragssegen“ der privat Krankenversicherten sind außerdem die zu erwartenden Ausgaben gegenüberzustellen.
Hier wirkt sich der demografische Wandel besonders stark aus. Denn die Befürworter der Bürgerversicherung haben den Wechsel von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung erschwert. Die Versicherungsbestände weisen einen hohen Altersdurchschnitt auf und gehen folglich mit gesteigerten krankheitsbedingten Ausgaben einher.
Den Preis zahlen die Beschäftigten
Mit dem Wegfall der Krankheitskostenvollversicherung wird den privaten Versicherungsunternehmen ihre Haupteinnahmequelle entzogen, was zu Personalabbau führt. Vom Arbeitsplatzabbau sollen nach wissenschaftlichen Studien bis zu 75.000 Beschäftigte betroffen sein, sowie tausende weitere Arbeitsplätze in der gesamten Gesundheitsbranche (Arzthelferinnen, Krankenhauspersonal usw.). Den Preis zahlen wieder einmal die Beschäftigten, ohne das sich am Gesundheitssystem etwas verbessert.
Die Lösung kann daher nur im Erhalt und der Verbesserung des dualistischen Gesundheitssystems liegen. Etwa 80 Prozent der Gesundheitsausgaben werden über das Umlageverfahren finanziert und 20 Prozent über das Kapitaldeckungsverfahren.
Im Umlageverfahren lassen sich die steigenden Kosten nicht mehr finanzieren
Bereits im Jahr 2035 wird es rund 21 Millionen über 67-jährige geben. Gleichzeitig geht die Zahl der Beschäftigten um 5,8 Millionen zurück. Somit müssen immer weniger jüngere Beitragszahler die Versorgung von immer mehr Menschen im Ruhestandsalter übernehmen. Das werden die gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr finanzieren können, weil im Umlageverfahren die vereinnahmten Beiträge direkt wieder ausgegeben werden. Es können keine Rücklagen gebildet werden – im Gegensatz zu den privaten Krankenversicherungen.
Deshalb sollte der Staat zum Beispiel mehr Anreize zur privaten Gesundheitsvorsorge schaffen.
So könnten attraktive Steuermodelle die Arbeitgeber zum Abschluss weiterer betrieblicher Krankenversicherungsprodukte für die Beschäftigten und ihre Familie bewegen.
Die teilweise zweistelligen Beitragserhöhungen in der privaten Krankenversicherung lassen sich ebenfalls vermeiden, indem die gesetzlichen Anpassungsgrundlagen verändert werden, um nur zwei Verbesserungsbeispiele zu nennen.