Vivida-BKK-Vorstand im Interview

GKV-Krise: Warum Leistungskürzungen für Gänsler nicht die Antwort sind

Die Ausgaben der Krankenkassen steigen und damit auch die Zusatzbeiträge. procontra sprach mit Siegfried Gänsler, Vorstand der Vivivda BKK, über Mehrkosten für Versicherungsnehmer, mögliche Leistungseinschränkungen und Lösungsvorschläge, die sich letztlich als bloße Nebelkerzen erweisen.

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12:07 Uhr | 15. Juli | 2025
Vivida-BKK-Vorstand Siegfried Gänsler

Siegfried Gänsler ist seit April 2023 Alleinvorstand der Vivida BKK.

| Quelle: vivida BKK

Was Sie erfahren werden

  • Warum die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) trotz guter Einnahmesituation in Schieflage gerät

  • Welche Rolle Digitalisierung und Strukturveränderungen bei den Kassen selbst spielen könnten

  • Warum Beitragserhöhungen nur ein Symptom, aber keine Lösung sind

procontra Procontra:

Der Sachverständigenrat Gesundheit vermeldete jüngst: Die gesetzliche Krankenkasse ist in der prekärsten Lage ihrer Geschichte. Hat er damit Recht?

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Siegfried Gänsler:

Ja, das ist definitiv so. Die gesetzliche Krankenversicherung befindet sich in einer schwierigen und prekären Situation. Früher war es häufig so, dass es aufgrund einer schwachen Konjunktur oder hoher Arbeitslosigkeit Probleme auf der Einnahmenseite gab. Das war die vergangenen Jahre nicht der Fall: Auf der Einnahmenseite gab es zuletzt ein Plus von fünf Prozent zu verbuchen. Allerdings stiegen die Ausgaben noch wesentlich stärker, allein 2024 um rund acht Prozent. Momentan schwächelt die Konjunktur wieder, wodurch die Einnahmenseite erneut unter Druck gerät, bei weiterhin rasant steigenden Kosten.

procontra:

Die Menschen hierzulande bemerken diese besondere Situation der Kassen vor allem an den steigenden Zusatzbeiträgen. Müssen sich die Menschen auf weitere Anpassungen gefasst machen?

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Gänsler:

Wenn politisch nichts passiert und die Ausgaben weiter schneller steigen als die Einnahmen, wird es weitere Anpassungen der Zusatzbeiträge geben. Und das erleben wir ja auch gerade. Seit Januar haben bereits 15 Kassen, davon allein neun zum 1. Juli, ihren Beitragssatz erhöht bzw. nochmals erhöht. Für die Kassen ist das praktisch die einzige Möglichkeit um die Gesamtsituation zu stabilisieren – auch weil die beiden letzten Regierungen den Kassen die Rücklagen genommen haben.

procontra:

Seit kurzem hat Deutschland eine neue Bundesregierung und mit Nina Warken eine neue Gesundheitsministerin. Hat diese Ihrer Meinung nach die Dringlichkeit der Situation erkannt?

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Gänsler:

Ich glaube nicht, dass es seitens der Bundesregierung ein Erkenntnisproblem gibt.

procontra:

Aber folgen daraus auch die richtigen politischen Weichenstellungen?

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Gänsler:

Keine Frage: Es ist schwierig, das Problem in den Griff zu bekommen. Viele Bälle sind derzeit in der Luft – jetzt muss die Bundesregierung entscheiden, welchen sie davon spielen will. Fairerweise muss man aber auch sagen: Es geht um viel Geld und das System ist äußerst komplex. Insgesamt werden in Deutschland jährlich rund 500 Milliarden Euro für Gesundheit ausgegeben. Es gibt unzählige Stakeholder – die alle einigermaßen unter einen Hut zu bekommen, kann man innerhalb dieser kurzen Zeit von der Bundesregierung glaub ich auch nicht erwarten.

procontra:

Dann sind sie zufrieden mit dem im Koalitionsvertrag formulierten Ziel, dass eine Kommission bis 2027 Lösungen präsentieren soll?

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Gänsler:

Die Bildung einer Arbeitsgruppe halte ich für richtig, nicht aber den hier formulierten Zeitraum. Ich denke aber auch, dass die neue Bundesregierung seit Verfassen des Koalitionsvertrags die Dramatik der Lage erkannt hat und das Thema mit größerer Dringlichkeit angeht. Ich gehe davon aus, dass die Arbeitsgruppe deutlich früher Ergebnisse vorlegen wird.

procontra:

Auch vor rund 20 Jahren ging es den Kassen schlecht. Die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt sah sich damals zu Leistungseinschränkungen gezwungen. Braucht es einen solchen Schritt auch dieses Mal wieder?

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Gänsler:

Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, es braucht Leistungskürzungen. Ich bin aber dafür, die Ineffizienzen im GKV-System zu beseitigen, die die Leistungsgewährung betreffen. Es sollte nicht um die Leistung als solche gehen, sondern um die Prozesse, die bestimmen, wie ich überhaupt zu meiner Leistung komme. Also muss es zuerst um eine umfangreiche Bestandsaufnahme gehen, um überhaupt ermitteln zu können: Was ist denn den Leuten gegenüber zumutbar? Und ist es womöglich nicht effektiver, den Weg des Patienten zum Arzt zu optimieren als ihn beim Arzt wieder zehn Euro zahlen zu lassen?

procontra:

Von der Kürzung einzelner Leistungen halten Sie folglich nichts?

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Gänsler:

Nein, solche Forderungen sind meiner Meinung nach Nebelkerzen, die geworfen werden, um den Blick von tatsächlich notwendigen, jedoch erst mittel- bis langfristig wirkenden Maßnahmen abzulenken. Das stabilisiert doch bestenfalls kurzfristig, hilft aber nicht dem Gesundheitssystem, das grundlegend reformiert werden muss.

procontra:

Ob 2.000 Euro Selbstbeteiligung, zweckgebundene höhere Abgaben auf Zucker und Tabak oder Sozialbeiträge auf Finanzeinkommen: Es gibt ja zahlreiche Vorschläge, um die Einkommensseite der Kassen zu verbessern. Welcher Vorschlag ist aus Ihrer Sicht hier zielführend?

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Gänsler:

Das sind alles Vorschläge, die allein den Beitragszahler für die Erhöhung der Einnahmen in die Verantwortung nehmen. Damit muss er für Leistungen aufkommen, die er eigentlich gar nicht zu finanzieren hat: Die sogenannten Versicherungsfremden Leistungen. Aus meiner Sicht gibt es drei Hebel, um die Einnahmenseite der Kassen zumindest kurzfristig zu stabilisieren und dabei nicht allein auf die Beitragszahler abzuzielen. Erstens: Wir brauchen für die Bürgergeldempfänger die Beiträge, die wir benötigen, um diese Versichertengruppe kostendeckend zu versorgen. Das wären dann Mehreinnahmen von rund neun Milliarden Euro. Zweitens: Wenn auf Medikamente nicht mehr 19, sondern nur noch sieben Prozent Mehrwertsteuer fällig würden, würde uns das um weitere fünf bis sieben Milliarden Euro jährlich entlasten. Wie wollen Sie das im Übrigen jemandem ernsthaft erklären, dass der Staat beispielsweise für Tierfutter den ermäßigten Mehrwertsteuersatz aufruft, aber ausgerechnet im Arzneimittelbereich voll zulangt? Und drittens muss der Steuerzuschuss aus dem Bundeshaushalt dynamisiert werden. Er dient eigentlich der Finanzierung sämtlicher Versicherungsfremder Leistungen, reicht aber bei weitem nicht dafür aus. Die Differenz zahlt bisher der Beitragszahler.

procontra:

Zu versicherungsfremden Leistungen zählen auch Investitionen in die Telematikinfrastruktur. Durch die Digitalisierung des Gesundheitswesens, beispielsweise die Einführung der elektronischen Patientenakte, lassen sich natürlich auch Prozesse verschlanken und die Behandlung der Patienten besser steuern. Wie groß ist ihrer Meinung nach hier das Einsparpotenzial?

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Gänsler:

Ob das Einsparpotenzial nun 20, 30 oder 40 Milliarden Euro pro Jahr, wie teils zu lesen ist, betragen wird, das weiß ich nicht. Ich glaube aber fest daran, dass wir durch die Digitalisierung einen kraftvollen Hebel in der Hand haben. Da sind wir wieder bei den von mir erwähnten vereinfachten Prozessen. Digitalisierung und Automatisierung führen dazu, dass wir schneller und effizienter werden. Davon profitieren auch und vor allem die Versicherten, die beispielsweise durch die Elektronische Patientenakte vor unnötigen Doppeluntersuchungen oder ungewollten Wechselwirkungen bei der Medikamentengabe verschont bleiben und darüber hinaus mehr Transparenz über ihre medizinischen Behandlungen erhalten.

procontra:

Wir haben jetzt über die Beitragszahler und die Politik gesprochen – doch welche Möglichkeiten gibt es bei den Kassen selbst zu sparen? Braucht es beispielsweise wirklich 94 Krankenkassen hierzulande?

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Gänsler:

Ich denke schon, dass es hier auch in Zukunft weitere Fusionen geben wird. Vor 30 Jahren hatten wir noch 960 Kassen, jetzt stehen wir bei 94. Die Diskussion, ob wir 20, 40 oder 94 Krankenkassen brauchen, ist für mich aber ein reines Ablenkungsmanöver. Im Übrigen sind wir doch hier eine soziale Marktwirtschaft, die diese Frage letztlich regelt.

procontra:

Was wäre denn kein Ablenkungsmanöver?

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Gänsler:

Die Frage, ob die Kassen die eingenommenen Euro effizient ausgeben, nämlich für die Gesundheitsversorgung ihrer Kunden und nicht für „mehr“ Verwaltung. Und hier kann ich Ihnen versichern: Das Prinzip der Wirtschaftlichkeit ist den Kassen eingebrannt. Darüber hinaus: Glaubt denn jemand, dass ein einzelnes, großes Unternehmen den Kunden bessere Dienstleistungen bieten kann? Ich bezweifele das. Konkurrenz belebt das Geschäft – das gilt auch im Krankenkassenwesen.

procontra:

Sie stehen ja mit ihrem Zusatzbeitrag in Konkurrenz zu den anderen Kassen und mit derzeit 3,79 Prozent gehören sie zu den Kassen mit dem höchsten Zusatzbeitrag. Wie macht sich das auf die Zahl ihrer Versicherten bemerkbar?

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Gänsler:

Wir haben uns bei dieser Anpassung des Zusatzbeitrages für eine langfristige Kalkulation entschieden – wir wollten nicht nach einem halben Jahr den Zusatzbeitrag erneut anheben müssen. Allerdings können wir nicht verhindern, dass Kunden wechseln – und jeder dieser Wechsler tut uns auch weh. Darum ist von unserer Seite Individualität und Persönlichkeit gefragt, um die Menschen von uns zu überzeugen.

procontra:

Mit was außer dem Zusatzbeitrag kann man denn beim Kunden punkten?

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Gänsler:

Wichtig ist, dass Sie für die Probleme der Kunden Lösungen finden – und dafür brauchen sie immer mehr spezialisiertes Personal, auch weil die komplexen Fragestellungen zunehmen. Auf diese müssen wir Antworten finden und haben darum längst nicht nur Sozialversicherungsangestellte bei uns beschäftigt, sondern eben auch Ärzte, Apotheker, Pflege- oder Orthopädiespezialisten. Wenn sie dem Kunden für sein Anliegen schnell eine Lösung anbieten können – dann punkten sie auch.

Sind Leistungskürzungen zur Stabilisierung der GKV unumgänglich?