Warum Vermittler und Versicherer jetzt bei der Pflegevorsorge handeln müssen
Aktuell sind mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Im Jahr 2040 werden es sechs Millionen sein, erwartet der PKV-Verband. Statistisch wird mehr als jede zweite Person im Laufe ihres Lebens einmal pflegebedürftig. Die Wahrscheinlichkeit steigt mit dem Alter. Nach Angaben des neuen Pflegereport der Krankenkasse DAK-Gesundheit müssen die Pflegebeiträge schon bald wieder erhöht werden. Bereits zum kommenden Jahreswechsel dürfte die immer weiter steigende Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland einen Anstieg nötig machen, so der Report, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.
Eine Absicherung durch eine private Pflegezusatzversicherung scheint deshalb nicht nur sinnvoll, sondern dringender denn je. Denn allein der Eigenanteil, den Pflegebedürftige im ersten Jahr ihres Heimaufenthalts selbst aufbringen müssen, steigt stetig und beträgt aktuell im Durchschnitt 2.700 Euro pro Monat. Kann die betroffene Person den Betrag nicht bezahlen, müssen ab einer bestimmten Grenze die Angehörigen ran – oder eben sofort eine private Pflegezusatzversicherung.
Nur 5 Prozent setzen auf eigene Pflegevorsorge
Trotz der lückenhaften Absicherung durch die gesetzliche Pflegeversicherung, die immer größere Kostenbelastung für Pflegebedürftige und deren Angehörigen sowie das mit dem Alter steigende Risiko der eigenen Pflegebedürftigkeit – die private Pflegevorsorge ist bis heute nicht richtig in der Bevölkerung angekommen. Wie Alexander Kraus, Fachkoordinator für den Bereich Krankenversicherung bei Assekurata, gegenüber procontra erläutert, „hatten Ende 2022 nur 4,4 Millionen Deutsche eine zusätzliche Absicherung für den Pflegefall abgeschlossen.“ Auf die Gesamtbevölkerung bezogen seien das maue 5 Prozent. Die Corona-Pandemie habe kurzfristig zu mehr Abschlüssen geführt. Zuletzt aber sei das Marktwachstum schon wieder abgeflacht und stagniere mittlerweile, berichtet Kraus (siehe Grafik).
Gesetzliche Pflegepflichtversicherung schafft Illusionen
In der Branche spricht man vom Pflegeparadoxon: Hoher Bedarf, aber kaum Absicherungen. Woran liegt das? procontra ist dieser Frage nachgegangen. Fasst man die Antworten der Analysten, Vermittler, Versicherer und Wissenschaftler zusammen, schält sich ein Kernproblem heraus: Das bei Politiker vorhandene Misstrauen gegenüber einem auch nur teilweise eigenverantwortlichen Umgang mit dem Pflegefallrisikos. Trotz knapper Finanzen und der Grundidee, dass der Staat eben deshalb nur eine Teilabsicherung bieten solle, weite der Gesetzgeber die Leistungen der Sozialen Pflegepflichtversicherung ständig aus. Das schüre Illusionen.
Seit 2017 habe der Gesetzgeber alle zwei Jahre die Leistungen in der Sozialen Pflegepflichtversicherung ausgeweitet und damit auch deren Finanzierungsproblem vergrößert (siehe Infokasten). Während die Mehrleistung in Medien breit dargestellt werden, findet eine Debatte über deren Bezahlbarkeit nur in Fachkreisen statt, ist in der Branche zu hören. Zurück bliebe eine ruhig gestellte Bevölkerung, die wenig Interesse an Eigenverantwortung habe.
„Die regelmäßigen Leistungsausweitungen vermitteln den Menschen ein Gefühl der vermeintlichen Sicherheit“, kritisiert auch Miriam Michelsen, Leiterin Krankenversicherung beim Maklerunternehmen MLP, die Entwicklung. Abschlüsse einer zusätzlichen privaten Absicherung unterblieben, weil die Pflegeversicherung fälschlicherweise häufig für eine Vollversicherung gehalten werde; wie es beispielsweise bei der Krankenversicherung der Fall sei.
Jede Leistungsausweitung in der Sozialen Pflichtversicherung verschärfte die Fehlsteuerung.Matthias Beenken
Matthias Beenken, Professor für Versicherungswirtschaft an der Fachhochschule Dortmund, hält die Pflegeversicherung von Beginn an für falsch konstruiert: „Es gibt wenig Anreiz zur privaten Vorsorge. Wer nicht selbst vorsorgt, kann auf die Grundsicherung vertrauen und wird davon vergleichbar gut gepflegt“. Jede Leistungsausweitung in der Sozialen Pflichtversicherung verschärfte die Fehlsteuerung. Zum Beispiel hätten bis 2020 ältere Kunden mit erwachsenen Kindern oft den Wunsch gehabt, ihr Erbe zu schützen und ihren Kindern einen Rückgriff der Sozialämter zu ersparen. „Dank Angehörigen-Entlastungsgesetz beschränkt sich dieses Risiko jetzt auf wenige, sehr gut verdienende Kinder“, so Beenken. Die Vorgabe sieht eine Unterhaltpflicht erst ab einem Jahresbruttoeinkommen von 100.000 Euro vor. Darunter zahlt das Sozialamt. Das Einkommen des Ehepartner wird hierbei nicht angerechnet.
Versicherer und Vertriebe haben auch Fehler gemacht
Lange Zeit hätten die Versicherer an eine Erfolgsgeschichte geglaubt, zuletzt 2013 mit Einführung des staatlichen Zuschusses in Höhe von fünf Euro pro Monat bei Abschluss einer Pflegetagegeldversicherung mit Eigenbeitrag von mindestens zehn Euro („Pflege-Bahr“). Dann folgte sukzessiv die Ernüchterung – eben aufgrund des skizzierten Konstruktionsfehlers und der Leistungsausweitungen in der Sozialen Pflegepflichtversicherung. Beenken zufolge haben aber auch Versicherer und Vertriebe Fehler gemacht. So habe es „Stornowellen an druckvoll per Aktionen verkauften Verträgen“ gegeben. Demnach haben einige Anbieter ihre Tarife nicht nachhaltig kalkuliert und Vermittler das Produkt nicht bedarfsgerecht verkauft.
Ein weiterer Grund für die geringe Verbreitung von Pflegezusatzpolicen sei das „Alles-oder-nichts-Prinzip“, das Kunden nicht gefalle: Sie zahlten jahrzehntelang Beiträge ein, um möglichst nie eine Leistung zu erhalten. Ohnehin gebe es eine Verwendungskonkurrenz der knappen Geldmittel der Kunden mit der Altersvorsorge, die als vorrangig angesehen werde. „Vielleicht wäre es sinnvoller, mehr Kombi-Produkte zu entwickeln, die verschiedenen Bedürfnissen wie Berufsunfähigkeit-, Alters- und Pflegevorsorge gerecht werden und den Kunden das gute Gefühl geben, in jedem Fall eine Leistung zu erhalten“, schlägt der Professor vor.
Versicherer eher zurückhaltend
Mittlerweile scheinen einige Versicherer das Geschäft mit Pflegezusatzpolicen nur noch halbherzig zu betreiben. Auf eine Umfrage von procontra unter 15 Anbietern, ob sie die Intensität ihrer Pflegeaktivitäten zukünftig verstärken, beibehalten oder reduzieren wollen, bekannten sich nur fünf Gesellschaften eindeutig zu ihren Wachstumsabsichten: Allianz, Arag, Hallesche, Debeka und Versicherungskammer Bayern (VKB). Continentale und Gothaer wollten an der Umfrage nicht teilnehmen - andere nicht genannt werden. Bezeichnend für die schwierige Situation bei den Produktgebern ist die Aussage eines Sprechers der VKB: „Wir sind bereit, einen noch stärkeren Beitrag zu leisten, sehen zunächst aber die Politik in der Pflicht, wichtige gesetzliche Grundlagen für die Gestaltung und Finanzierung der Pflege zu schaffen.“
Demgegenüber geht die Allianz Private Krankenversicherung jetzt in die Offensive. Seit März läuft eine Pflegekampagne, die kurzweilig und im Jugendsprech darauf aufmerksam machen will, wie wichtig es sei, früh privat und kapitalgedeckt vorzusorgen. Darüber hinaus könnten Makler diverse Werbematerialien erhalten, um damit Kunden von der Notwendigkeit einer Absicherung zu überzeugen. Die Aktion ziele insbesondere auf die Generation Y, also die zwischen 1980 und 1995 Geborenen. „Wir möchten zum Nachdenken anregen“, sagt Vertriebsvorstand Daniel Bahr gegenüber procontra. Bahr war von 2011 bis 2013 Bundesminister für Gesundheit und hat den nach ihm benannten Pflege-Bahr initiiert.
Während andere Versicherer schwächeln, gibt die Allianz-Tochter Gas
Den Ausführungen Bahrs zufolge sollten Vermittler ihren Kunden offene Fragen stellen: „Wie haben Sie das Thema gelöst? Wie stellen Sie sich das vor?“ Und dann gemeinsam die besten Lösungen für die jeweiligen Bedürfnisse finden. „Wichtig ist bei der Pflegeversicherung, nicht mit Angstszenarien aufzuklären“, so der Vertriebsvorstand. Wie die Kampagne im Markt ankommt, bleibt abzuwarten. Bahr zufolge hat die Allianz im vergangenen Jahr das Neugeschäft mit Pflegezusatzpolicen nach Beiträgen um 12 Prozent gesteigert. Während andere Versicherer schwächeln, gibt die Allianz-Konzern-Tochter Gas.
Die ständigen Eingriffe der Politik in das System verursachen auch Aufwand und Kosten bei den Versicherern. Ein Sprecher von Signal Iduna schätzt das eigentlich auf Langfristigkeit ausgerichtete Geschäft dennoch als rentabel ein. Es sei jedoch wichtig, die Produkte regelmäßig auf Kompatibilität mit veränderten gesetzlichen Vorgaben abzugleichen. Dass Staatseingriffe Folgen für die Gestaltung und Kalkulation von Pflegezusatzpolicen haben, darauf weisen auch die Analyten von Morgen & Morgen hin. Der Markt entwickle sich in Richtung Pflegetagegeld. Die Pflegerente sei ins Hintertreffen geraten. Zuletzt hätten etliche Versicherer die Tarife und Bedingungsstände ihrer Pflegetagegeld-Angebote angepasst – auch, weil die Politik in der Sozialen Pflegepflichtversicherung höhere Leistungen beschlossen haben.
Tarifqualität nimmt ab
Nicht immer könne das Analysehaus dabei eine positive Veränderung feststellen. Im vergangenen Jahr hätten nur 58 Tarife die Bestnote fünf Sterne erhalten; nach 65 im Jahr 2022 und 69 davor. Auch die Anzahl der Tarife mit vier und drei Sternen sei gesunken. Dagegen seien die Zwei-Sterne-Einstufungen um 30 auf 71 gestiegen. Als Grund nennt Morgen & Morgen „Einschränkungen der Leistungsbedingungen, was nicht im Interesse der Versicherungsnehmer ist.“ Trotz des Leistungsabfalls erweise sich der Markt aber noch als leistungsstark.
Auch nach Auffassung von Kraus „ist die aktuelle Produktwelt insgesamt gut“. Vermittler hätten immer noch eine breite Auswahl. Dennoch könne das Produktdesign überdacht werden. Denn das ausbleibende Wachstum müsse nicht ausschließlich auf Kundenseite begründet sein. „Es ist möglich, dass auch auf Angebotsseite Optimierungspotenzial besteht“, gibt Kraus zu bedenken. Er gesteht den Versicherern zu, dass das ständige Herumbasteln der Politik am System es ihnen erschwere, die Bedürfnisse der Kunden langfristig angemessen abzudecken. Ein weiteres Beispiel seien die jüngsten Zuschüsse im stationären Bereich, die zu einer Verringerung der Pflegelücke bei längeren Aufenthalten in Heimen geführt hätten. „Trotzdem gibt es derzeit keine Produkte, die sich an einen potenziell sinkenden Bedarf anpassen können.“
Noch etwas betont der Fachmann: Ebenso wichtig wie ein leistungsstarkes Produkt sei die Qualität eines Unternehmens. Nur bei einer hohen Qualität – womit wohl primär die Kapitalstärke gemeint sein dürfte – könne ein Versicherer langfristig stabile Beiträge gewährleisten. Hintergrund: Zuletzt gab es teilweise kräftige Beitragserhöhungen bei Pflegezusatzpolicen.
In diesem Umfeld aus kurzfristig agierenden Politikern, verunsicherten Verbrauchern und zum Teil frustrierten Produktgebern versuchen viele Versicherungsmakler nach besten Kräften auch die Vorsorgelücken im Bereich der Pflege bei ihren Kunden zu schließen. Wie das funktionieren könnte, schildert Oliver Pradetto, Beiratsvorsitzender des Maklerpools Blau Direkt (siehe Maklers Meinung, Seite XX). Auch der Vertriebsprofi betont: Statt Ängste zu schüren, sollten Berater an die Liebe appellieren.
Wunsch nach Flexibilität
Dass der Vertrieb von Pflegezusatzpolicen generell schwierig ist, räumt auch Dirk Kober, Leiter Versicherungen bei BCA, ein. Das liege auch an der Komplexität der Produkt. „Es gibt Pflegetagegeld-, Pflegekosten- und Pflegerentenversicherungen, die alle eine Vielzahl von Leistungen und Optionen bieten, die für die meisten Verbraucher schwer zu durchschauen sind.“ Umso wichtiger sei eine umfassende Beratung. „Die Tarifwelt ist so vielfältig wie der Bedarf“, betont Kober. Auch er rät Maklern, Kunden nicht zu verängstigen, sondern aufzuklären. Neben der finanziellen Absicherung seien Assistance-Leistungen ein starkes Argument.
Gegen einen Mythos wendet sich Michelsen von MLP: „Anders als viele Menschen annehmen, ist private Vorsorge weder sehr teuer noch unflexibel – für jeden Kunden gibt es passende Optionen, sowohl aus der Welt der Kranken- als auch der Lebensversicherung sowie immer stärker aus dem Bereich der betrieblichen Krankenversicherung.“
Was die Flexibilität betrifft, nennt Robert Gladis, Leiter Produktentwicklung bei Hallesche, auf Anfrage beispielhaft das Ergänzungsprodukt OlgaFlex. Es biete eine „flexible Beitragszahlung, wobei die Prämie bis zum 60. Lebensjahr der Lebenssituation angepasst werden kann – bei vollem Leistungsumfang.“ Und Mario Hanowski, Produktverantwortlicher bei Axa, weist generell auf die „maximale Flexibilität“ des eigenen Angebots hin – zum Beispiel die Möglichkeit der anlassabhängigen Nachversicherung. Leistungsausweitungen seien ohne erneute Gesundheitsprüfung machbar; freilich steige dann auch der Beitrag entsprechend.
Und schließlich sind auch betriebliche Pflegezusatzpolicen eine interessante Entwicklung, wie von Expertin Michelsen bereits erwähnt. Dieses Geschäft forcieren immer mehr Versicherer – wohl auch, weil hier der politische Widerstand geringer ist und sich Gewerkschaften mehr Einflussmöglichkeiten erhoffen. Beispiele sind die betriebliche Pflegergänzungsversicherungen FEELCare des Anbieters Hallesche und BonusMed Pflege Plus von DKV.
Arbeitgeber mit einbinden
Arag wiederum bietet eigenen Angaben zufolge seit 2023 eine betriebliche Pflegeabsicherung speziell für tarifgebundene ambulante Pflegedienste an. Für Stephan Böhm, Hauptabteilungsleiter Produkte und Partner bei der Arag Krankenversicherung, hat das Produkt „Modellcharakter über die derzeitige Zielgruppe hinaus. Neben den Versicherten und staatlichen Stellen müssten Arbeitgeber an der Finanzierung der privaten Eigenvorsorge beteiligt werden.
Vielleicht tragen betriebliche Pflegezusatzpolicen eines Tages tatsächlich zur Verbreitung dieser wichtigen Absicherung bei. Alle Beteiligten sollten aber den Bedarf der nicht abhängig Beschäftigten nicht vernachlässigen. Vor allem Maklern kommt hier eine wichtige gesellschaftliche Funktion zu: Auch in Zukunft zählt vor allem eines: Aufklärung! Auch das kam in der Marktumfrage von procontra deutlich zum Ausdruck – ebenso, dass das Thema Pflege zu einer ganzheitlichen Beratung einfach dazu gehöre. Versicherungsexperte Beenken hat noch einen Tipp: „Makler sollten die Pflegezusatzpolice nicht solitär ansprechen, sondern im Zusammenhang mit dem Bedarfsfeld Einkommenssicherung während und nach dem Berufsleben. Dann gehört das Pflegerisiko unbedingt ins Beratungsspektrum.“
Neuer Reformversuch
Wie es mit der Pflegeversicherung weitergeht, bleibt abzuwarten. Vorprogrammiert scheint, dass das immer krassere Missverhältnis zwischen Leistungsempfängern und Leistungszahlern und damit die wegbrechende Finanzbasis der Sozialen Pflegepflichtversicherung massive Beitragssteigerungen herbeiführen wird. Die Steuerzahler können die Finanzlöcher nicht ewig stopfen. Laut PKV-Verband steigt der Bundeszuschuss ohne Gegenmaßnahmen bis 2030 auf 32 Milliarden Euro pro Jahr. Es ist höchste Zeit für eine nachhaltige Finanzierung.
Seit August 2023 macht dafür auch ein Bündnis unter anderem aus Paritätischem Gesamtverband, Vereinigter Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) und BIVA-Pflegeschutzbund Druck auf die Politik. Das Bündnis fordert eine „solidarische“ Pflegevollversicherung. Welche Pläne die Bundesregierung für die Pflegeversicherung hat, offenbart sie voraussichtlich am 31. Mai. Dann will sie die Eckpunkte für eine weitere Reform vorstellen. Ein weiterer Versuch, die Pflege auf gesunde Beine zu stellen. Hoffentlich mit den richtigen Signalen für Vermittler und Verbraucher.