BU: Was heißt, zu 50 Prozent berufsunfähig zu sein?

Die Qualität der BU-Versicherung zeigt sich erst im Leistungsfall. Daher sind die Bedingungen so wichtig. Hinweise für Makler gab procontra in einer BU-Serie. Die heizte die Branchendiskussion an und zeigt Schwachstellen vor allem bei der Beweislast.

07:09 Uhr | 12. September | 2019
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Es gibt zahlreiche „Auftragsgutachter“ für die Versicherungswirtschaft, sagt Michael Wortberg, Referent für Versicherungsfragen bei der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz Bild: VZ Rheinland-Pfalz

Laut Rating-Agentur Franke und Bornberg wurden 2017 bei sechs wichtigen Versicherern fast 83 Prozent aller BU-Leistungsanträge positiv beschieden. Nach der aktuellen BU-Leistungspraxisstudie ist der häufigste Grund für eine Ablehnung, dass der versicherte Grad der Berufsunfähigkeit (mindestens 50 Prozent sind nötig) nicht erreicht wurde (56 Prozent).

Doch wie lässt sich dieser Grad von mindestens 50 Prozent exakt bestimmen? „Der Kunde hat hier die Beweislast“, sagt Versicherungsmakler Bert Heidekamp, zugleich Analyst und Sachverständiger für BU-, Unfall- und Pflegeversicherungen. Diese Hürde könne er aus eigener Kraft kaum überwinden, wenn der BU-Versicherer das anzweifelt.

Zunehmend seien Gerichte und auch Versicherer im BU-Fall auf die Expertenmeinung von Sachverständigen angewiesen. „Der gerichtliche Sachverständigenbeweis hat in einem Gerichtsprozess den größten Beweiswert“, weiß Heidekamp, der selbst zertifizierter Sachverständiger (DIN EN ISO/IEC 17024BDSF) ist (procontra berichtete). Ein Sachverständiger dürfe nicht nur den zeitlichen Anteil bestimmter Tätigkeiten bemessen, sondern müsse diesen untrennbar als Bestandteil eines beruflichen Gesamtvorgangs werten, so Heidekamp.

Wie neutral sind Gutachter?

Allerdings gibt es offenbar zahlreiche „Auftragsgutachter“ für die Versicherungswirtschaft. Darauf machte Michael Wortberg, Referent für Versicherungsfragen bei der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz, aufmerksam. Er verwies auf einen Fall, bei dem alle Ärzte und Behandler - außer den vom Versicherer beauftragten Medizinern des Gutachteninstituts Interdisziplinäre medizinische Begutachtung (IMB) - bestätigen, dass der BU-Kunde derzeit dauerhaft zu mindestens 50 Prozent nicht in der Lage ist, seinem in gesunden Tagen ausgeübten Beruf nachzugehen. Wegen des Gutachtens zahlte die Generali nicht.

„Das ist kein Wunder“, glaubt Wortberg, denn das IMB werde von Professor Lorenz Schweyer geleitet. Er und weitere seiner Mitarbeiter seien speziell als Auftragsgutachter geschult und nach den Wortberg vorliegenden Unterlagen im größten für die Versicherungswirtschaft tätigen Gutachterinstitut tätig.

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Verbraucherschützer prangert bestimmte Gutachter an

Der Gutachter wird zwar in anderen, Wortberg vorliegenden Unterlagen so dargestellt, als handele sich bei ihm um einen neutralen Gutachter, der ausschließlich auf Grund objektiver Untersuchungen zu seinem Ergebnis gekommen ist. „Der Generali ist aber bekannt, dass dies nicht stimmt“, kritisiert Wortberg. „Es handelt sich hier um einen der Ärzte, die in einer Zusammenarbeit der GenReinsurance (ehemals Kölnische Rückversicherung) mit der Uni Köln von ausgesuchten Berufsgutachtern darin geschult wurden, Gutachten so zu erstellen, dass sie dem Auftraggeber eine Hilfe bei der Leistungsablehnung sind“, behauptet Wortberg.

Wortberg liegen Schulungsunterlagen vor, in denen einer der Lehrenden ausdrücklich und wörtlich den Gutachter, als „Helfer ... der Auftraggeber“ bezeichnet. „Helfer“ ist ein Gutachter aber seiner Auffassung nach nur dann, wenn er im Sinne des vom Auftraggeber gewünschten Ergebnisses urteilt. Das vom Versicherer gewünschte Ergebnis sei die Ablehnung der Leistungspflicht.

Als der Verbraucherschützer im Interesse seines Mandanten beim BU-Versicherer intervenierte und die bedingungsgemäße Anerkennung der Berufsunfähigkeit verlangte, entschied der Versicherer, den behandelnden Ärzten keinen Glauben zu schenken und die Rentenzahlung weiterhin zu verweigern. „Der Fall liegt mittlerweile dem Landgericht Kaiserslautern zur Entscheidung vor“, berichtet Wortberg. Mit der Kritik konfrontierte die Redaktion den genannten Gutachter und das IMB am Mittwoch. Bis Redaktionsschluss am Donnerstag gab es keinerlei Reaktion.

Auch Gerichte beobachten nicht-neutrale Gutachten

„Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es durchaus sogenannte ‚unabhängige‘ Gutachter gibt, die sehr versicherungsfreundliche Gutachten erstellen“, sagt Versicherungsmakler Gerd Kemnitz, der die Online-Plattform BU-Portal24.de betreibt. Auch ihm seien IMB-Gutachter in den Medien schon negativ aufgefallen.

Die bisher hier bekannt gewordenen Ergebnisse der Begutachtungen sind durchweg zum Nachteil der Versicherungsnehmer ausgefallen, bestätigt die Kanzlei Büchner Rechtsanwälte. Immerhin stützt sich die Allianz nicht mehr „auf widersprüchliche Aussagen des IMB-Gutachters Ralf Wagner“, berichtet Jörg Büchner, Fachanwalt für Versicherungs- und Medizinrecht, mit Bezug auf einen Prozess vor dem Landgericht Berlin.

Nicht-neutrale Gutachten haben offensichtlich eine Dimension erreicht, dass einzelne Gerichte die Gutachten bestimmter Gutachter nicht mehr akzeptieren, weiß Makler Kemnitz. Er verweist auf eine Verfügung des Landgerichts Kiel, konkret dort genannte Gutachter nicht mehr zuzulassen, weil die Gutachten in der Vergangenheit nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprachen und stets zum Nachteil der Kunden ausfielen. Auch das OLG Düsseldorf hielt in einem Beschluss den Gutachter „Prof. Dr. C.“ für voreingenommen. Darüber hatte Frank Vormbaum, Fachanwalt für Versicherungsrecht, auf der Website Fachanwalt.de berichtet.

BU-Ablehnung oft ohne triftigen Grund?

Beatrix Hüller, früher Leistungsprüferin einer Versicherungsgesellschaft, heute Fachanwältin für Versicherungsrecht mit eigener Kanzlei in Bonn, die ausschließlich von Versicherungsopfern beauftragt wird, bestätigte dem MDR-Magazin FAKT schon vor einigen Jahren (das Video ist nicht mehr in der Mediathek verfügbar): „Der Versicherer sucht sich schon den richtigen Gutachter dafür aus, wenn er nicht leisten will. Zahlt dann für bestimmte Gutachten auch sehr, sehr viel Geld. Dann kommt er auch zum gewünschten Ergebnis, nämlich, dass jemand nicht berufsunfähig ist.“

Hüller, die inzwischen 3.000 BU-Leistungsfälle begleitet hat, spricht auf Nachfrage von procontra von „unglaublichen Ablehnungen durch die Versicherer, obwohl ich sozusagen die Leistungsprüfung mache und die Unterlagen dann beim Versicherer einreiche“. Die Palette der Gründe reiche von behaupteter fehlender BU über Ablehnung der BU vom Gutachter bis hin zu angeblich falscher Tätigkeit bei wechselnder Erwerbsbiographie.

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Mehr Aufklärung zu 50-Prozent-Regel nötig

„Nach meiner festen Überzeugung ist die sogenannte 50-Prozent-Regel der absolute Schwachpunkt der BU-Versicherung, weil niemand bei Vertragsschluss und übrigens auch beim Leistungsantrag sagen kann, was eigentlich 50 Prozent Berufsunfähigkeit bedeutet. Das heißt, wir beginnen überhaupt erst nachzudenken, wenn das Kind im Brunnen liegt“, sagte Professor Hans-Peter Schwintowski, ausgewiesener Experte für Privatversicherungsrecht, Humboldt-Universität zu Berlin, der FAKT-Redaktion.

Schwintowski fordert von der Branche, klarzustellen, „dass die 50 Prozent Berufsunfähigkeit an objektivierten Kriterien festgemacht wird und das die Sachverständigen neutral und unabhängig sein müssen“. Er ist sich sicher, dass es dann sehr viel weniger Leistungsablehnungen gebe und die Gesamtabwicklung sehr viel kürzer wäre.

"Verlässliche Kriterien könnte man zusammen mit Medizinern entwickeln und beispielsweise festlegen, von welchem Grad der Beeinträchtigung an jemand eine BU-Rente bekommt", so Schwintowski. Das wäre objektiv. Bisher hat die Branche auf diese Idee überhaupt nicht reagiert, beklagt der Wissenschaftler.

Die BU-Serie in procontra

Im ersten Teil ging es am 18. Juli um die innovative Teilzeitklausel, die es Teilzeitbeschäftigten ermöglicht, im BU-Fall faire Leistung zu bekommen. Im zweiten Teil stand am 25. Juli die Kindervorsorge im Mittelpunkt. Teil drei befasste sich am 1. August mit der Beitragsfreiheit der Altersvorsorge im BU-Fall, Teil vier am 8. August mit Problemen zwischen BU- und Krankentagegeld-Schutz bei längerer Arbeitsunfähigkeit. In Teil fünf am 15. August stand der BU-Fall im Mittelpunkt, in Teil sechs am 22. August der BU-Tarifvergleich.

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