Doulas und Ökodörfer: Wie tickt ein anthroposophischer Gewerbemakler?
Wenn man von Hamburg aus in Richtung Stade fährt und Dörfer mit ungewöhnlichen Namen wie Himmelpforten und Düdenbüttel passiert, kommt man irgendwann – wenn man schon fast nicht mehr daran glaubt – nach Hechthausen. In diesem beschaulichen Ort trifft procontra in einem verwilderten Garten die Köpfe hinter der Marke Anthrovita. Ein Gewerbemakler mit Wurzeln in der Anthroposophie und einem klaren Fokus auf Nachhaltigkeit – eine ungewöhnliche Kombination in der Versicherungsbranche – für einige auf den ersten Blick vielleicht sogar befremdlich. Doch das Konzept steht auf soliden Beinen.
Waldorfschulen waren nur der Anfang
„Der Garten wird von einer Einrichtung der Lebenshilfe gepflegt, aber derzeit geht es leider nicht“, entschuldigt sich Merle Stöcken, Geschäftsführerin von Anthrovita, mit einem Lächeln für das hohe Gras. Diese Momentaufnahme verrät mehr über die Werte des Unternehmens als eine zweistündige Power-Point-Präsentation.
Das Familienunternehmen wird mittlerweile von Merle Stöcken und ihrem Lebensgefährten Nicolas Engelken in der zweiten Generation geführt. Vor 30 Jahren gründeten die Eltern von Merle Stöcken, Michael Hey-Stöcken und Sabine Stöcken, eine Waldorfschule und standen vor der Frage, wie sie diese versichern könnten. Daraus entstand der Versicherungsvermittler Anthrovita. Heute versichert das Maklerhaus nicht nur Schulen und Kindergärten, sondern auch große soziale Einrichtungen, etwa der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderungen oder Einrichtungen für psychisch erkrankte Menschen, sowie Alten- und Pflegeheime, ökologische Landwirtschaften und nachhaltige Start-ups. Zudem ist es der Gewerbeversicherungspartner der GLS Bank. Erst vor zwei Jahren haben Merle Stöcken und ihr Lebensgefährte das Unternehmen übernommen. „Seitdem versuchen wir, unseren kleinen nachhaltigen Wandel in der Versicherungsbranche voranzutreiben“, beschreibt Merle Stöcken.
Nachhaltiger Wandel eher Schlafwandel
Doch den jungen Geschäftsführern geht alles nicht schnell genug. Die Fortschritte der Versicherer im Bereich Nachhaltigkeit und die zähen Gespräche mit den Anbietern über nachhaltige Produkte haben Merle Stöcken 2019 dazu veranlasst, zusammen mit Versicherern eine eigene Produktlinie, „GreenCompact“, zu entwickeln, die ihren eigenen Ansprüchen an Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit entspricht. Mit Concordia und der Bayerischen hat Anthrovita einen Rahmenvertrag abgeschlossen, den Kunden als Baustein in ihre Verträge integrieren können. Keine Energiegewinnung aus Kohle, kein Atomstrom, keine Kernenergie – und die Einhaltung von Kinderrechtsnormen gehören zu den wesentlichen Eckpunkten. Auch beim Thema Rüstung bleibt Anthrovita, trotz der Diskussionen seit dem Ukraine-Krieg, klar bei einem Nein. Transparenz wird bei Anthrovita großgeschrieben – die Liste mit den Kriterien können alle Kunden einsehen.
Nachhaltiger, aber möglichst nicht teurer
Nachhaltigen Produkten heftet häufig das Image an, teurer zu sein als ihre weniger umweltfreundlichen Pendants. In einigen Bereichen ist diese Tendenz wohl nicht von der Hand zu weisen. Doch viele der Einrichtungen, die Anthrovita versichert, haben ein festes Budget. „Unsere Kunden können nicht einfach das Doppelte für eine nachhaltige Versicherung zahlen“, so Stöcken. Deshalb ist es für die Geschäftsführerin entscheidend, so nachhaltig wie möglich zu versichern, aber auch wettbewerbsfähig zu bleiben.
Anthroposische Wurzeln tragen auch ökonomisch
Mit den anthroposophischen Wurzeln befindet sich das Maklerunternehmen in guter Gesellschaft. Wie aus einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ hervorgeht, gibt es etwa 600 anthroposophisch orientierte Wirtschaftsunternehmen in Deutschland. Darunter bekannte Namen wie Alnatura, Wala, Demeter, Weleda oder die Drogeriemarktkette DM, aber auch der Automobilzulieferer Mahle oder die Software AG in Darmstadt. Auch die GLS Bank stammt ursprünglich aus dem Waldorfschulen-Kontext. Bei Anthrovita steckt es bereits im Namen: „Anthro heißt Mensch und Vita heißt Leben“, erläutert Stöcken. „Aber es passt natürlich auch zur Anthroposophie.“ Das Netzwerk, das um die anthroposophischen Wurzeln gewoben ist, erspart dem Unternehmen hohe Marketingausgaben und aggressive Verkaufsaktionen. Der Großteil des Geschäfts kommt durch Empfehlungen. „Wir wachsen gut und schnell, würde ich sagen, und bekommen positives Feedback von unseren Kunden.“
Nischen für Gewerbemakler gibt es ausreichend
Wo die Anthroposophie neben dem Schriftzug des Maklers auch eine Rolle spielt: Laut Merle Stöcken im Umgang mit Kunden und Mitarbeitern, einer offenen Firmenkultur ohne ausgeprägte Hierarchien. Und ein wenig auch bei den Zielgruppen. So dürften die wenigsten Gewerbemakler Öko-Dörfer versichern und vom Berufsbild der Doulas haben wahrscheinlich auch nur wenige gehört. „Ich glaube, wenn man sich auf Gewerbe spezialisieren möchte, gibt es viele Nischen, für die es noch keinen Markt gibt“, so Stöcken. Vor wenigen Jahren nahm Anthrovita mit den Mütterpflegerinnen und Doulas eine kleine neue Nische auf. Da es sich bei dieser Berufsgruppe nicht um Hebammen handelt, gab es auch noch keine Spezialangebote für das Berufsbild. „Dann haben wir ein Angebot mit Versicherern ausgehandelt. Inzwischen gibt es bereits einen Folgevertrag, der so gut anläuft, dass wir täglich ein bis zwei Anfragen von Mütterpflegerinnen oder Doulas erhalten, ohne dass wir etwas dafür tun müssen“, berichtet Stöcken von dieser kleinen Erfolgsstory.
Eins wird im Gespräch mit der jungen Versicherungsmaklerin deutlich: Sie will noch viel bewegen. Sei es durch Vorträge, die sie regelmäßig hält, durch ihren Podcast oder durch eine Kolumne im anthroposophischen Magazin „Info 3“. 2023 hat es Anthrovita sogar ins Finale des Jungmakler Awards geschafft.
Übergabe des Unternehmens an die nächste Generation: frischer Wind und Erfahrung
Die Gründer von Anthrovita, Stöckens Eltern, arbeiten zwar noch im Unternehmen mit, haben sich jedoch aus der Führung zurückgezogen. Merle Stöcken und ihr Lebensgefährte haben sich für einen klaren Schnitt entschieden und den Gewerbemakler von den Eltern übernommen. So wurde der Wechsel mit dem 1. Januar 2023 vollzogen, und laut Merle Stöcken war dann auch klar: Jetzt treffen die jungen Leute die Entscheidungen. Aber sie ist sich sicher: „Man braucht eben beides: die frische Energie, aber man darf diese auch nicht falsch einsetzen“, sagt sie heute nach der Übernahme des Unternehmens. „Meine Eltern haben den Bestand schließlich über 30 Jahre aufgebaut, und wir wollen die Kunden nicht verlieren.“ Inzwischen sieht sich Anthrovita als Versicherungsberater, der sich mit dem Ziel für den Kunden einsetzt, das richtige Angebot zu finden. „Deshalb macht uns das Gewerbegeschäft auch so viel Spaß – wir lieben die Herausforderung“, erklärt Stöcken. „Wenn es ganz einfach wäre, bräuchte man uns nicht. Dann könnten die Kunden auch direkt zu Check24 gehen. Man muss schon Lust haben, der Feuerlöscher zu sein.“