Verfahren zu Scheinselbständigkeit

Gründungsmitglied verklagt DVAG auf hohe Millionenbeträge

Ein Gründungsmitglied der DVAG sieht sich um seine Altersvorsorge gebracht und strebt jetzt ein Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) an. Die Detailfragen des Falles greifen tief in die Vertriebsstrukturen der DVAG.

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15:07 Uhr | 01. Juli | 2024
Haus der Gründer

Ausstellung im Dr. Reinfried Pohl - Zentrum für Vermögensberatung (ZVB) in Marburg.

| Quelle: DVAG

„Wir denken nicht in Quartalsberichten, sondern in Generationen.“ - Mit diesem Slogan verkauft sich die Deutsche Vermögensberatung (DVAG) gerne als Familienunternehmen mit Werten wie Menschlichkeit und Gemeinschaft. Doch was passiert, wenn sich einer aus dem engsten Familienkreis gegen die DVAG stellt? Und wenn dieses „Familienmitglied“ nicht irgendjemand ist, sondern einer der Gründungsväter des milliardenschweren Strukturvertriebs?

Die DVAG sieht sich derzeit mit einer brisanten Klage eines Gründungsmitgliedes und langjährigen Direktionsleiters konfrontiert, bei der es um hohe Millionenbeträge geht. procontra berichtete bereits über den Fall - allerdings schien es zunächst vor allem um Ansprüche aus einer möglichen Scheinselbständigkeit zu gehen. Nach neuen Informationen, die procontra vorliegen, greift die Klage jedoch tiefer als bislang bekannt. Der Kläger macht insgesamt Ansprüche gegen die DVAG geltend, die sich zu einem dreistelligen Millionenbetrag hochschrauben könnten.

Ansprüche aus Versorgungszusage?

Der Kläger (der Name ist der Redaktion bekannt) ist kein Unbekannter bei der DVAG, sondern gehört zu den „Gründungsmitgliedern“. Dabei handelt es sich um 35 Vermögensberater, die den Strukturvertrieb 1975 gemeinsam mit dem inzwischen verstorbenen Reinfried Pohl aufgebaut haben.

Die Ansprüche, die der Kläger daraus ableiten möchte, kommen aus einer angeblichen „Versorgungszusage“ der DVAG, die aus Sicht des Klägers nicht eingehalten worden sei. Zu dem familiären Grundgedanken, auf den Pohl Senior sein Unternehmen aufgebaut hat, würde eine solche Zusage passen. procontra liegen Unterlagen vor, die nahelegen, dass es Gründer Pohl wichtig gewesen ist, dass für seine 35 Gründungsmitglieder auch im Alter gesorgt werde. Nach Angaben des Klägers habe es Individualvereinbarungen gegeben. Die Höhe des daraus resultierenden Anspruches ist jedoch schwer zu beziffern. Wie Akten belegen, die procontra vorliegen, geht der Kläger davon aus etwa ein Achtel der DVAG-Struktur mit aufgebaut zu haben. Zeugenaussagen bestätigen diese Einschätzung, insbesondere durch eine Vermögensberater-Assistentin der DVAG. Doch welche Anspruchsgrundlage soll daraus resultieren? Der Kläger orientiert sich als Vergleichsgruppe an den anderen Mitgründern, bei denen die Versorgung zwischen einem hohen zweistelligen und einem dreistelligen Millionenbetrag gelegen haben soll. Allerdings sei dieses Geld nicht einfach auf deren Konto geflossen, sondern setze sich unter anderem aus der lebenslangen Nutzung einer Ferienimmobilie in Portugal und dem Übergang von Strukturen zusammen.

Aus der Übergabe von Strukturen können in der Regel hohe und planbare Einnahmen (auch für das Rentendasein) generiert werden. Vorausgesetzt diese werden spät genug übergeben. Denn im Vertrag des Klägers wurde im Jahr 2000 nachträglich eine Regelung implementiert, wonach Direktionsleiter von ihren ausgebauten Strukturen lediglich bis zum 60. Lebensjahr profitieren können, mindestens aber 10 Jahre – danach fällt ein Großteil der Provisionen weg. 

Gab es Strukturübergaben?

Doch können Strukturen einfach hin und her geschoben werden? An der Spitze jeder Struktur der DVAG steht ein Direktionsleiter, zu denen auch der Kläger zählte. Wird eine Struktur übertragen, beispielsweise weil der Direktionsleiter ausscheidet, bedeutet das für den Empfänger dieser Struktur erhebliche Geldeinnahmen aus Provisionen. Angeblich sollen andere Gründungsmitglieder von solchen Strukturübertragungen profitiert haben. Der Kläger jedoch nicht. Die DVAG bestätigt, dass es seit 2017 „eine wohl in der Branche einzigartige Möglichkeit, Direktionen an Nachfolger zu übergeben“, gibt. Ob jedoch der Kläger oder andere Gründungsmitglieder davon profitiert haben, dazu äußert sich die DVAG wie auch zu sonstigen Aspekten des konkreten Verfahrens nicht.

Zahlungen aus einem Versorgungswerk offen?

Was die DVAG auf Nachfrage von procontra jedoch bestätigt: Mitte der 80er Jahre wurde eine „Versorgungswerk KG“ gegründet, die jedoch 1995 bereits wieder aufgelöst wurde. Laut DVAG geschah dies einvernehmlich und alle Kommanditisten hätten ihre Einlage gut verzinst zurückerhalten. Der Kläger ist aber der Ansicht, dass die vorzeitige Auflösung des Versorgungswerkes finanzielle Nachteile für ihn gebracht hätte. Dem hält die DVAG entgegen: „Diese KG hatte nichts mit einem System einer Altersvorsorge zu tun.“  

Obwohl der Name dies eigentlich nahelegen würde. Denn heute gibt es ein Versorgungswerk für die Vermögensberater der DVAG, in Form eines Aktien-Fondsdepot und/oder Lebensversicherungen. Auch der Kläger soll über ein solches Depot verfügt und Zahlungen in sechsstelliger Höhe daraus erhalten haben.  

Entscheidung kann schnell gehen

Das Hessische Landesarbeitsgericht wies den Fall zunächst aber an das Landgericht Frankfurt am Main - als rein zivilrechtlichen Fall. Jetzt zieht der Kläger mit einer sogenannten „Nichtzulassungsbeschwerde“ vor das Bundesarbeitsgericht, um dafür zu sorgen, dass sein Fall doch arbeitsgerichtliches Gehör findet. Die Entscheidung könnte schnell gehen.

„In aller Regel ergehen die Entscheidungen über Nichtzulassungsbeschwerden ohne mündliche Verhandlung“, erläutert Oliver Klose, Richter am Bundesarbeitsgericht. „Dabei ist zu beachten, dass nicht über die inhaltlichen Rechtsfragen des Falles entschieden wird. Es geht allein darum, ob die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, die Rechtsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht nicht zuzulassen, richtig war.“

Hat eine Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg, so führt dies grundsätzlich nur dazu, dass die Revision oder Rechtsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht durchgeführt werden kann - dann geht es erst um die inhaltlichen Fragen des Falls.

In der mündlichen Verhandlung hat das Hessische Landesarbeitsgericht (HLAG) laut DVAG bereits klar formuliert, dass es sich bei den Ansprüchen aus der Versorgungswerk KG allenfalls um gesellschaftsrechtliche Ansprüche und eben nicht um arbeitsrechtliche Ansprüche handeln könnte (da die KG allerdings de lege artis abgewickelt wurde, bestehen keinerlei Ansprüche). Ob das BAG sich dieser Auffassung nun anschließt bleibt abzuwarten. Denn genau darum geht es ja in der Nichtzulassungsbeschwerde. Das gilt ebenso für die Annahme einer mutmaßlichen Scheinselbständigkeit des Klägers.

Kläger sieht sich als Scheinselbständiger

Dieser habe sich nach eigenen Angaben federführend um die Schulung neuer Vermögensberater gekümmert. Er habe nicht nur die Berater seiner Struktur ausgebildet, sondern sei Ausbilder für einen Großteil der Strukturen in der Region Kassel gewesen, was auch dazu führte, dass er kaum mehr eigenes Endkundengeschäft betrieben habe. In dieser Tätigkeit sei der Kläger vollkommen den Weisungen der DVAG unterlegen gewesen. Themen, Termine, Örtlichkeiten - all das sei von der Zentrale vorgegeben gewesen. Was eine der Voraussetzungen für die Annahme einer Scheinselbständigkeit sein kann. Laut Rechtsanwalt Stephan Michaelis ist die Beurteilung von Scheinselbständigkeit jedoch immer von einem Gesamtbild abhängig, das sich rechtlich nicht so leicht beurteilen lässt. Insbesondere kommt es auf die unternehmerische Freiheit und das unternehmerische Risiko an.

Mögliche Strahlkraft des Urteils auf weitere Vermögensberater

Das BAG kann sich (noch) nicht dazu äußern, ob ein Urteil möglicherweise eine Strahlkraft auf andere der 18.000 Vermögensberater der DVAG haben könnte. Rechtsanwalt Stephan Michaelis wies jedoch in einem Gespräch mit procontra im April darauf hin, dass Gerichte sich stets den Einzelfall in seinem Gesamtbild anschauen. Allein weil bei einem Vermögensberater die Scheinselbständigkeit festgestellt würde, sei dies nicht automatisch auf alle anderen übertragbar. Die Tatsache, dass es sich bei dem Kläger um ein Gründungsmitglied handelt, gibt dem Fall zudem eine Besonderheit, die sich sicherlich in Gänze kaum auf andere Vermögensberater übertragen lassen wird. Zu dem laufenden Verfahren äußert sich die DVAG nicht.