Pflege-Serie (I): Die größten Lücken der gesetzlichen Pflegeversicherung
Die Pflegepflichtversicherung wurde am 1. Januar 1995 eingeführt. „So gut die Einführung damals auch war, so lag von Beginn an ein System-Fehler vor: Statt auf reine Umlage zu setzen, hätte man einen Teil der Umlage kapitalgedeckt investieren sollen, dann hätten wir heute wesentlich mehr Sicherheit und Puffer“, sagt Versicherungsmakler Bert Heidekamp, zugleich Analyst sowie erster vom Bundesverband Deutscher Sachverständiger und Fachgutachter (BDSF) geprüfter und zertifizierter Sachverständiger für Berufsunfähigkeits-, Unfall- und Pflegeversicherungen.
Grund: Zu jener Zeit waren die Kosten überwiegend durch das Familieneinkommen, Vermögen und die gesetzlichen Leistungen vergleichsweise noch gut gedeckt. Heute sieht es anders aus. Die Singlehaushalte sind seitdem um über 36 Prozent gestiegen, was die Kosten einer professionellen ambulanten oder stationären Pflege wesentlich erhöht. Zudem haben sich die Pflegekosten seit 1995 mehr als verdoppelt. Nach Recherchen von Heidekamp sind seit dem Jahr 2000 die stationären Kosten um jährlich rund 3,2 Prozent gestiegen, das durchschnittliche Einkommen aber nur um 1,5 Prozent. „Die Schere wird immer breiter“, so der Analyst.
Mehr Singles, höhere Kosten, steigende Lebenserwartung
Zudem ist die Lebenserwartung für 60-Jährige seit 1995 im Schnitt um rund vier Jahre gestiegen. Seit der Einführung des Pflegestärkungsgesetzes II am 1. Januar 2017 profitieren vor allem Demenzkranke und psychisch Kranke von besseren Leistungen. Zugleich gibt es immer weniger Beitragszahler. Die gesetzliche Pflegeabsicherung steckt also in der Demografie-Falle. Es muss immer mehr Geld ins System gepumpt werden, ohne die Pflegelücke zwischen den gesetzlichen Leistungen und den real höheren Kosten pro Pflegefall decken zu können.
Ein Beispiel: Vom 1. Juli dieses Jahres an müssen Pflegebedürftige im Schnitt monatlich 2.015 Euro Eigenanteil im Pflegeheim bezahlen, Tendenz weiter steigend (procontra berichtete). Schon jetzt könnten sich allenfalls vier von zehn Haushalten einen Heimaufenthalt von fünf Jahren für vollstationäre Pflege leisten, hat das IW Köln errechnet.
Teilkasko ja, aber…
Hintergrund: Die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung bzw. privaten Pflege-Pflichtversicherung (für Privatversicherte) bieten nur eine Grundabsicherung – vergleichbar der Teilkasko-Versicherung bei Autos. Immerhin: Die Leistungen werden in regelmäßigen Abständen dynamisiert. Doch für den Vollkasko-Schutz ist jeder selber zuständig. Ohne Vollkasko bleibt das Risiko, nötige Pflegeleistungen aus dem Ersparten zu bezahlen oder die finanzielle Last den nächsten Angehörigen aufzubürden.
Ein schwer Pflegebedürftiger lebt nach seinem Schicksalsschlag im Schnitt weitere sechs Jahre, was mit rund 150.000 Euro Zusatzkosten verbunden ist, für die die gesetzliche Absicherung nicht aufkommt. Sind Vermögenswerte aufgebraucht, wird der fehlende Unterhalt zunächst vom Sozialamt übernommen. Das Amt darf aber auf Verwandte ersten Grades zurückgreifen. Dann geraten die „Kinder“ in die Armutsfalle, sofern sie mehr als 100.000 Euro brutto verdienen (Angehörigen-Entlastungsgesetz). Ehepartner werden dabei untereinander nicht entlastet.
Wer die eigene Lebensqualität im Pflegefall bewahren, den Partner entlasten und die eigene Immobilie behalten will, muss privat vorsorgen, wenn keine ausreichende Einkünfte oder Vermögen bestehen. Besonders im Sozialfall kann es zu weiteren Problemen führen, wenn beispielsweise Geld-Geschenke zurückgefordert werden. Enkel müssen geschenktes Geld der Oma im Pflegefall zurückzahlen, entschied das OLG Celle im Februar 2020 (procontra berichtete).
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… letztlich hilft nur Vollkasko
Die Pflegeversicherung ist nur eine Grundabsicherung. Das Geld reicht keineswegs für eine Rundum-Pflege. Im Pflegefall muss ein Betrag von ungefähr 3.000 Euro monatlich zur Verfügung stehen. Der gesunde Menschenverstand plädiert für private Zusatzabsicherung, die jedermann bis etwa zum 70. Geburtstag ohne Probleme abschließen kann. „Je eher er es tut, desto preiswerter wird der Schutz – am besten bereits ab Geburt durch die Eltern“, rät Heidekamp.
Es gab bereits Fälle, wo bestehende ambulante Pflegeverträge aufgekündigt wurden, da die Kosten nicht mehr gedeckt waren, weiß der Sachverständige. Ein Großteil der ambulanten Pflege soll bereits durch „Schwarzarbeiter“ vorgenommen werden, da ambulante Pflegedienste zum Teil überlastet und zu teuer sind. Zudem gibt es zunehmende Nervosität bei älteren Bewohnern, die durch Helfer gepflegt werden, die kein Deutsch sprechen und sich nicht ausreichend verständigen können. Mit einer Zusatzversicherung lässt sich die Pflegequalität positiv beeinflussen.
Zwei Möglichkeiten zur Kostenbeherrschung
Aktuell gibt es schon 3,8 Millionen Pflegebedürftige. „Bis zum Jahr 2060 sollen es dann rund fünf Millionen sein, jedoch waren bislang alle Vorausberechnungen stets zu niedrig angesetzt“, weiß Heidekamp. Die Lohnkosten für Pflegekräfte müssen weiter steigen und auch deren Anzahl. Folge: Entweder steigen die Sozialkosten ins Unermessliche oder die Leistungen werden wieder gekürzt, oder beides.
Zur Finanzierung der steigenden Ausgaben gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten: Die Beiträge der gesetzlichen Pflegeversicherung werden entsprechend des Bedarfs deutlich angehoben oder die Versicherten sorgen zusätzlich privat vor, also kapitalgedeckt. Letzteres wäre generationengerecht und für den Einzelnen gut tragbar (procontra berichtete). Wenn die Politik dazu noch intelligente Anreize zur Vorsorge setzt, etwa durch Förderung betrieblicher Pflegezusatzversicherung oder Steuerabzug für Beiträge, wäre viel gewonnen (procontra berichtete).
Spezialfälle erfordern vom Berater Spezialwissen
Zunehmend hat Makler Heidekamp auch Mandanten, die keine Pflegepflichtversicherung besitzen, etwa Grenzgänger oder junge Leute, die für einige Zeit im Ausland gearbeitet haben. „Besser wäre es, den freiwilligen Beitrag weiter zu bezahlen, zumal der sehr gering ist“, rät der Experte. Vorsicht sei auch bei Pflege im Ausland geboten. Der Europäische Gerichtshof hat bestätigt (EU-Verordnung 1408/71 zum Export von Sozialleistungen), dass alle Geldleistungen im Krankheitsfall auch im EU-Ausland gezahlt werden, aber meist sind sie geringer als in Deutschland. „Wird man außerhalb der EU und Schweiz gepflegt, sind die Regelungen wesentlich schlechter“, weiß der Pflege-Sachverständige. „Vor einem Umzug sollte alles mit der Pflegekasse besprochen werden“, rät er dringend.
Auch beim Wechsel von PKV in die gesetzliche Krankenversicherung könnte man böse Überraschungen erleben, wenn es sich dabei um eine nachrangige beitragsfreie Form des Versicherungsschutzes handelt (Familienversicherung). Dann ist die Vorversicherungszeit für die Leistungsgewährung in der gesetzlichen Pflegeversicherung nicht erfüllt, sagt das Bundessozialgericht (Az.: B 3 P 5/16 R). „In diesem Fall kann es sinnvoll sein, die private Pflegepflichtversicherung zu erhalten“, weiß Heidekamp.
Sachverständiger Heidekamp ist auch Inhaber der Online-Plattform fairtest.de, die Versicherungsbedingungen von Pflege-Zusatzpolicen analysiert und bewertet (procontra berichtete). Dazu wird er in den nächsten Artikeln die passenden Angebote privater Lückenfüller für die Pflege untersuchen – vom Pflegegeld über die Pflegerente bis zur Pflegeergänzungsversicherung und der Ausschnittdeckung Unfall-Pflegerente. Zum Thema Berufsunfähigkeitsabsicherung hatte er es bereits 2019 in einer Artikel-Serie getan (procontra berichtete).
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