Nach dem BGH-Urteil: Muss die Grundfähigkeitsversicherung jetzt auf den Prüfstand?
Das viel diskutierte BGH-Urteil legt den Schluss nahe, dass die VVG-Regelungen zur Lebensversicherung nicht auch für Grundfähigkeitsversicherungen (GFV) und Dread-Disease-Policen gelten, weil diese – anders als BU-Policen – keine klassischen Arbeitskraftabsicherungen und somit dem Schadensrecht zuzuordnen seien (Urteil vom 11. Dezember 2024; Az. IV ZR 498/21). Anders als bei der Berufsunfähigkeit könnten Versicherer GFV-Verträge damit ordentlich kündigen.
Das Urteil basiert auf einem Rechtsstreit zwischen der Verbraucherzentrale Hamburg und der Axa. Der Versicherer hatte Tausenden Kunden ihre Unfall-Kombirenten-Verträge gekündigt, weil diese einer Umwandlung in eine leistungsschwächere Existenzschutzversicherung nicht hatten zustimmen wollen.
BGH folgt Linie der Verbraucherschützer nicht
Aus Sicht der Verbraucherschützer handelte es sich bei der Unfall-Kombirente der Axa jedoch nicht vorrangig um eine Unfallversicherung, da sie Komponenten einer Berufsunfähigkeitsversicherung besitze – die Verträge, so die Begründung, hätten deshalb nicht ordentlich gekündigt werden dürfen. Eine Argumentation, die beim BGH letztlich nicht verfing. Laut dem obersten Gericht sind die im Versicherungsvertragsgesetz enthaltenen Regelungen zur Berufsunfähigkeitsversicherung weder auf Multifunktionsrenten wie die „Unfall-Kombirente“ der Axa noch auf Grundfähigkeitsversicherungen und Dread-Disease-Policen anwendbar.
Wie soll man nun mit diesem Urteil umgehen? Was bedeutet es für die Praxis? Muss der Vertrieb und Verkauf von Grundfähigkeitsversicherungen nun auf den Prüfstand gestellt werden? Darüber gehen die Meinungen in der Branche zum Teil weit auseinander. Versicherungsmakler und BU-Experte Matthias Helberg zum Beispiel sieht hier noch viele ungelöste Fragen im Raum stehen, sein Makler-Kollege und „BU-Profi" Guido Lehberg hält die ganz Debatte dagegen für ziemlich übertrieben.
Es muss auf jeden Fall geklärt werden, ob die Regelungen des Versicherungsvertragsgesetzes zur Lebensversicherung für die GFV gelten.Matthias Helberg
Noch sind die vollständigen Konsequenzen aus der Urteilsbegründung des BGH nicht eindeutig. Verschiedene Rechtsanwälte legen die Ausführungen des BGH unterschiedlich aus. Eindeutig wird jetzt jedoch, dass man eine GFV zumindest nicht als Versicherung zur Arbeitskraftabsicherung bewerben sollte. Denn der Verlust der Arbeitskraft kann zwar zufällig mit dem Verlust einer Grundfähigkeit zusammenfallen, löst aber bei den meisten Tarifen nicht unmittelbar den Leistungsfall aus.
Ich würde eine GFV nicht als Alternative zur BU bezeichnen, eher als eine Alternative zur Pflegezusatzversicherung. Das verdeutlicht Verbraucherinnen und Verbrauchern auch besser, wie stark die Einschränkungen in der Regel eingetreten sein müssen, um eine Leistung zu erhalten. Dass es hier ganz offensichtlich zu falschen Annahmen durch die Versicherten kommt, darauf hatte letztes Jahr Franke & Bornberg hingewiesen.
Versicherer sollten sich eindeutig äußern
Auf das Abstellgleis wird die GFV wohl nicht geraten. Aber es muss auf jeden Fall geklärt werden, ob die Regelungen des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) zur Lebensversicherung für die GFV gelten. Um Zweifel auszuräumen, sollten sich die Versicherer dazu eindeutig äußern und die Rechtsgrundlage für ihre Auffassung nennen.
Ob Kunden im Extremfall nun damit rechnen müssen, dass ihre Verträge ordentlich gekündigt werden können, müsste sich nach meinem Verständnis aus den AVB des jeweiligen Vertrags ergeben. Mir sind keine AVB bekannt, in denen sich ein Lebensversicherer dieses Recht vorbehält. Also Teil-Entwarnung. Es bleibt allerdings die Frage, ob es nicht doch irgendwann einmal ein Versicherer ausprobiert. Denn dass ein Lebensversicherer nicht ordentlich kündigen kann, ergibt sich aus seinen Rechten zur einseitigen Anpassung von Prämien (§ 163 VVG) und Versicherungsbedingungen (§ 164 VVG). Was gilt aber, wenn diese Rechte gar nicht für die Grundfähigkeitsversicherung gelten?
Grundfähigkeit nicht in die Nähe einer BU rücken
All das sind wichtige Fragen, die hoffentlich nicht erst durch Gerichte geklärt werden müssen. Wenn sich unter Juristen die Auffassung durchsetzt, dass die §§ 150 bis 170 VVG nicht für die GFV gelten, könnte das der Fall sein. Es gibt AVB, in denen Versicherer schreiben, ihnen stünde das Recht zur Beitragsanpassung zu. Das wäre dann nicht der Fall. Man wird das kaum so in den Bedingungen stehen lassen können.
Wichtig ist jetzt aus meiner Sicht, erstens die Grundfähigkeitsversicherung nicht in die Nähe einer Berufsunfähigkeitsversicherung zu rücken oder eine Standard-GFV als Mittel zur Absicherung der Arbeitskraft zu bezeichnen. Und zweitens wegen der unklaren rechtlichen Lage vom jeweiligen Produktanbieter eine rechtsverbindliche Erklärung einzufordern, dass man bestehende Verträge und aktuelle Angebote nicht zum Nachteil der Versicherten auslegt, also so behandelt, als würden die §§ 150 bis 170 VVG anwendbar sein.
Das BGH-Urteil hat aus meiner Sicht keinen Einfluss auf die Bewerbung oder Produktentwicklung der Grundfähigkeitsversicherung.Guido Lehberg
Das BGH-Urteil hat aus meiner Sicht keinen Einfluss auf die Bewerbung oder Produktentwicklung der Grundfähigkeitsversicherung. Und entsprechend gerät die GFV weder aufs Abstellgleis noch müssen bestehende Verträge überarbeitet werden, und es gibt auch keine Unsicherheiten bzw. Makler müssen nicht fürchten, nun in Haftung genommen zu werden.
Das Urteil hat keinerlei Relevanz für die Grundfähigkeitsversicherung, wie sie von den Lebensversichern Alte Leipziger, Baloise, Bayerische, Barmenia Gothaer, HDI, Hannoversche, Nürnberger und vielen weiteren angeboten wird. Anders sieht es (wie schon immer) aus bei den sogenannten Multi-Renten von Sachversicherern wie Adcuri, Bayerische, Janitos und Co. aus. Mir ist bewusst, dass dies von einigen Vermittlern anders eingeschätzt wird und diese Einschätzung halte ich für grundlegend falsch und schlicht irreführend interpretiert.
Warum ist das so?
Im Urteil des BGH geht es um eine „Multirente“ nach Art der Unfallversicherung, die über einen Sachversicherer angeboten wurde. Damit unterliegt diese auch den Regelungen einer Sachversicherung und beinhaltet damit auch (und das war noch nie anders) ein ordentliches Kündigungsrecht.
Der Versuch der Klägerseite, über den Paragraphen 177 VVG zu argumentieren, wurde vom Gericht nicht anerkannt mit der Begründung „es gäbe keinen Bezug zur beruflichen Tätigkeit und damit ist diese Versicherung nicht mit der BU-Versicherung gleichzustellen“.
Nun könnte man annehmen, dass dies auch die Grundfähigkeitsversicherung betrifft, denn auch die hat in der Regel keinen Bezug zur Arbeitsfähigkeit (Ausnahmen könnten hier die AU-Klausel oder auch die Psyche-Klausel sein) und in keinem Fall einen Bezug zur zuletzt ausgeübten Tätigkeit.
„Die Grundfähigkeitsversicherung ist keine Sachversicherung"
Und genau hier beginnt der Interpretationsfehler: die Grundfähigkeitsversicherung ist keine Sachversicherung, sondern eine Versicherung nach Art der Lebensversicherung. So ist sie auch von den meisten Versicherern an die BU „angelehnt“ in Kalkulation und sogar in den Versicherungsbedingungen. Damit unterliegt sie meiner Ansicht nach exakt den gleichen Regelungen wie auch die BU-Versicherung.
Anders gesagt: es bleibt alles beim Alten. Auch schon vor 15 Jahren konnten Sachversicherungen, Unfallversicherungen und Multirentenversicherungen ordentlich vom Versicherer gekündigt werden. Das Einzige, was neu am Urteil ist, dass der Versuch des Klägers die Multirente über den Ansatz „es erwecke den Anschein das Gleiche zu sein wie eine BU, also muss es wie eine BU behandelt werden“ gescheitert ist.
Ich möchte an dieser Stelle hinweisen, dass dies nicht „meine eigene Sichtweise“ ist, sondern mir auch Stellungnahmen aus Führungsetagen und juristischen Abteilungen diverser Versicherer vorliegen, die meine Ansicht bestätigen beziehungsweise untermauern. Nicht alle Versicherer sehen das so, aber die meisten.